J. M. G. Le Clézio „Lied vom Hunger“, 218 Seiten, 18,95 €, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3462041361;
Als Le Clézio vorletztes Jahr den Nobelpreis erhielt, da rieben sich selbst Literaturkritiker die Augen: Wer ist das? Seitdem erfreut sich der Franzose auch hierzulande großer Beachtung. „Lied vom Hunger“ ist das jüngste Werk – eines, das die hoch gesteckten Erwartungen weitgehend erfüllt.
So richtig viel wissen wir ja nicht von den Franzosen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als Paris das kulturelle Zentrum Europas war, in dem sich nach dem Sieg der Bolschewiken 1917 der russiche (Geld-)Adel ein neues Zuhause suchte.
Jenes Frankreich, das von der deutschen Wehrmacht 1940 überrollt und besetzt wurde, das aber auch mit den Nazis kollaboriert, etwa bei der Vernichtung der Juden. In dieses Frankreich führt uns Le Clézio und erzählt uns die Geschichte einer Frau, die seine Mutter gewesen sein könnte.
Ethel, so heißt die unfreiwillige Heldin, ist 1931, als die Handlung einsetzt, gerade mal zehn Jahre alt. Ihr Vater ist ein notorischer Aufschneider, der das ererbte Vermögen durchgebracht und die Familie ruiniert hat. Die Mutter wiederum ist zu schwach, sich zu widersetzen.
Frustriert von der Welt und die Verantwortung gerne abschiebend, vegetiert die Familie in einem spießigen, opportunistischen Umfeld, in dem Antisemitismus und Fremdenhass gedeihen. „Neger und Ausländer überschwemmen Frankreich und verwandeln Notre-Dame bald in eine Synagoge oder Moschee“, klagt einer.
Halt findet das Mädchen Ethel in ihrer Einsamkeit nur bei zwei Seelenverwandten, der Exilrussin Xenia, eine Fürstentochter, und einem jungen Engländer. Armut zwingts schließlich die Familie nach Nizza, wo Ethel vor allem erleben muss, welch furchtbares Schicksal die Juden im besetzten Frankreich erleiden.
„Das Lied vom Hunger“ ist ein beziehungsreicher Titel: Es geht um tatsächlichen Hunger ebenso, wie um das Sehnen nach Freiheit und Selbstbestimmung. Le Clézio erzählt die Familiengeschichte schnörkellos und gerade heraus, völlig ungekünstelt. Das ist die Qualität dieses Romans, der in Frankreich ein Bestseller ist und in Deutschland völlig unterschätzt wird. Schade drum.
Bewertung: ****