Als Berlin das Chicago Europas wurde

Andrea Firmenich/Martina Padberg/Rainer Stamm (Hrsg.) „Nahsicht: Käthe Kollwitz, Heinrich Zille“, 192 Seiten, 37,90 €, Kerber, ISBN: 978-3866783232;

In Berlin pulsiert das Leben: Politik, Kunst, junge Leute, arrivierte Leute – in der neuen deutschen Hauptstadt treffen sich alle. Auch die Hartz-IV-Quote und der Migrantenanteil ist hier höher als sonstwo in der Republik. Doch die zwichendurch geteilte Stadt ist nicht das erste Mal der Mittelpunkt Deutschlands. Wie war das vor 100 Jahren? Eine Ausstellung der Altana-Kunststiftung, die noch bis 9. Mai in Bremen zu sehen ist, präsentiert Bilder aus dem Berliner Alltag – von Käthe Kollwitz und Heinrich Zille.

Kollwitz und Zille zählen bis heute zu den bekanntesten Berliner Künstlern, die ihren Fokus vo allem auf die einfachen Leute gerichtet hatten. Zilles Bekannheit rührt allerdings von seinen Zeichnungen und Karrikaturen, die Ausstellung und der hier beschriebene Katalog dazu präsentiert dessen fotografisches Oeuvre. Und Käthe Kollwitz ist berühmt geworden als politische Aktivistin, die die Armen aus dem Schatten holte.

Erbarmungslos war das Leben in den Hinterhöfen der Mietskaserne, am Rand der Stadt, wo die ungebildeten, schlecht bezahlten Industriearbeiter ihren Traum von einem besseren Leben fristeten. Ausdrucksstarke Gesichter zeigen die Zeichnungen und Skizzen der Kollwitz,  traurige  junge Männer und entmutigte Frauen, buchstäbliches Lumpenproletariat.

Heinrich Zilles Fotografien beweisen, dass Kollwitz die Realität abbildete. Auch dessen Schwarz-Weiß-Fotografien zeugen von der Mühsal des Überlebens in der aufstrebenden Metropole, die man heute als eines der Zentren der „Roaring Twenties“ kennt. Die Schattenseiten, die Müllberge am Rande der Stadt, wurden damals wie heute gerne übersehen.

Ein faszinierender Bildband, der schon aus den Frühwerken heraus die hohe künstlerische Qualität von Kollwitz und Zille dokumentiert. Ein Essay von Daniel Kiecol beschreibt die „Erfindung der modernen Metropole“, als Berlin das „Chicago Europas“ wurde oder werden sollte.

Bewertung: ****

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