Colum McCann „Die große Welt“, 537 Seiten, 19,90 €, Rowohlt, ISBN: 978-3498045111;
Der aktuell größte New-York-Autor ist ein Zugereister, der in Irland geborene Colum McCann. Er führt uns zurück ins Jahr 1974, als die Welt noch in Ordnung war: Ost und West, Gut und Böse, und auch die Zwillingstürme des World Trade Centers standen noch – ein Symbol der „freien Welt“. Und genau dort hat der französische Hochseilartist Philippe Petit sein Seil gespannt.
„Dort oben, hundertzehn Stockwerke hoch, vollkommen reglos, eine dunkle Spielzeugfigur vor bewölktem Himmel.“ Die Passanten, die nach oben schauen, sind fasziniert, die einen, weil sie Angst haben vor dem Mann, die anderen, weil sie dessen Tollkühnheit fasziniert. Ein Symbol für das, was 27 Jahre später passierte – als die Türme, Symbol eines globalisierten Mega-Kapitalismus, zerstört und die ganze Welt in Unsicherheit gestürzt wurde.
Zehn (Anti-)Helden gruppiert McCann um den Balanceartisten: etwa den irischen Mönch Corrigan, der sich als Sozialarbeiter in der Bronx um Junkies und Nutten kümmert. Einige Blocks weiter, in Downtown, ist der Arbeitsplatz von Solomon Soderberg, jenes Richters, der sich nicht nur mit den Junkies herumschlagen muss, sondern auch mit Hochseilartisten an den Twin Towers.
Und dessen Ehefrau Claire Soderberg, Upper-Class-Woman, der nach dem Tod ihres Sohns in Vietnam jeglicher Sinn in ihrem Luxusleben abgeht und die auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe mit Frauen aus allen Gesellschaftsgruppen zusammenkommt und erstmals begreift, was Privilegierung heißt und Standesdünkel bedeuten.
Dann ist da noch Lara, eine gescheiterte Künstlerin, die jeglichen Halt in ihrem Leben verloren hat („Man rammt einen Kleinbus und sieht, wie einem das Leben entgleitet.“), den 14-jährigen Fernando Yunqué Marcano und und und – ein spannendes Panoptikum ganz normal verrückter Durchschnittsleute, deren Wege sich wie in Robert Altmans Filmklassiker „Short Cuts“ kreuzen.
Drei Mal lässt McCann sogar den Seiltänzer selber vorkommen, auch wenn er ihm keine Stimme gibt. Und er ist wichtig, denn der Drahtseilakt hat einen Grund: „Es war Schönheit. Das Gehen auf dem Seil war ein göttliches Vergnügen.“ So wird der Seiltänzer im Widerspruch zu dem, was unter ihm in der Welt passiert zum Sinnbild für vollkommenes Gleichgewicht.
McCann versetzt uns in außerordentlich gelungener Sprache um über 30 Jahre zurück und lässt bilderreich eine Welt auferstehen, die uns im Vergleich zu heute beinahe geordnet erschien. Ein grandioser Roman.
Bewertung: *****
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