Robert Littell „Das Stalin-Epigramm“, 400 Seiten, 22 €, Arche, ISBN: 978-3716026229;
Was kommt heraus, wen ein Thrillerautor eine historisch verbürgte Geschichte schreibt. Real Fiction? So kann man wohl seine Interpretation der letzten vier Lebensjahre des russischen Schriftstellers Ossip Mandelstam (1891 bis 1938), der wie so viele Berufskollegen und Intellektuellen Opfer der „Großen Säuberungen“ Stalins wurde. Im Unterschied zu den meisten hatte er den Diktator allerdings persönlich provoziert.
Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegts Wort, das er fällt,
Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.
Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,
Die pfeifen, miaun oder jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.
Dass Stalin darüber sauer war, wundert wohl kaum. Er wurde nach Veröffentlichung des „Stalin Epigramms“ Sibirien in die Verbannung geschickt und starb nach fünf Jahren im Arbeitslager, als er erneut wegen Konterrevolution verurteilt worden war. Vor einem sofortigen Todesurteil bewahrte ihn wohl nur eine alte Verbindung zu Stalin und viele Kontakte in russische Schriftstellerkreise.
Dass nun ausgerechnet der Thrillerautor Littell diese Geschichte nacherzählt, hat viele Gründe. Einer davon ist, dass die Vorfahren des gebürtigen New Yorkers (* 1935) aus Russland stammten und der einstige Newsweek-Redakteur als Osteuropa-Korrespondent schon zu Zeiten des Kalten Kriegs enge Verbindungen nach Moskau hatte.
Der wichtigste Grund aber war eine Begegnung, die er 1979 hatte. Damals traf er Nadeshda Mandelstam, die bald 80-jährige Witwe des Dichters, die das Vermächtnis ihres Mannes unter anderem deshalb bewahrt hatte, weil sie dessen Gedichte auswändig lernte.
Littell in einem Interview über Mandelstam: „Er ist für mich einer der Helden des 20. Jahrhunderts. Als fast kein Mensch in Russland mehr Stalin zu widersprechen wagte, nutzte er seine Poesie als letzte Waffe, griff Stalin offen an – und besiegelte so sein eigenes Schicksal.“
Biografie ist dieser Roman allerdings nicht. Littell geht es um den Zweikampf zwischen Geist und Gewalt, zwischen dem Dichter und dem Diktatur. Stalin war in gewisser Weise fasziniert von mandelstam, dem einzigen Dichter, der ihm öffentliche Verehrung versagte. Es geht aber auch um das Leben im Moskau der 30er Jahre, um neue Menschen und sexuelle Freizügkeit. Dazu führt Littell auch fiktive, historisch nicht überlieferte Personen ein.
Ein spannendes Buch über eine Geschichte, die nicht vergessen werden sollte. Zusätzlichen Reiz bringt der Stoff aus einer Vater-und-Sohn-Beziehung: Littells Sohn Jonathan erregte vor zwei Jahren Aufsehen mit seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ über einen perversen Nazi.
Bewertung: ****
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