Emmanuelle Pagano „Die Haarschublade“, 144 Seiten, 16,90 €, Wagenbach, ISBN: 978-3803132246;
Das Leben kann erbarmungslos sein. Und dieser Roman ist es auch. In schnörkelloser, klarer Sprache erzählt die Südfranzösin Pagano eine Geschichte mitten aus dem Prekariat – von Menschen, die weder Gegenwart noch Zukunft haben und normalerweise nicht einmal eine lterarische Existenz.
Ein behindertes Kind, das sie als 15-Jährige bekam, verhindert, dass die Ich-Erzählerin ein normales, selbst bestimmtes Leben führen kann.. Ein zweites Kind kommt – sie ist völlig überfordert, arbeitet als Aushilfe in einem Friseursalon und zieht nachts um die Häuser.
Pierre, der ältere, der durch Sauerstoffmangel bei der Geburt schwere Schäden erlitt, ist ein stilles Kind, das nichts hört und nichts spricht und sabbernd in seiner eigenen Welt lebt. Titouan, der jüngere, ist frech und fidel und fordert seine Mutter ganz anders. Doch sie liebt ihre Kinder und müht sich nach Kräften – auch wenn die Nachbarschaft (aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird) dies mitunter anders sieht.
Aber was hat sie auch außer der Liebe zu ihren Kindern? Im Friseursalon darf sie als Aushilfe nur waschen, bürsten und verlängern. Das Haare schneiden ist Sache der Inhaberin. Und auch aus der Abhängigkeit von ihrer Mutter kann sie sich nicht lösen. Wer passt sonst auf die Kinder auf?
Und dann sind da noch die Haare? Sie werden ihr zum Symbol: Die ihrer Kinder, aber auch eine eigene Haarsträhne, die sie fetischgleich in einer Schublade aufbewahrt, bis, ja bis ihre Mutter sie gedankenlos beseitigt.
Die wesentliche Entscheidung steht aber noch an: Als ihre Mutter einen Heimplatz für Pierre sucht, geht es für die junge Frau um Alles oder Nichts …
Gradlinig, ohne jedes Pathos erzählt die 40-jährige Französin, Trägerin des Europäischen Literaturpreises, eine resignierend wirkende Geschichte mitten aus dem Leben. Sie hat sie wohl selbst miterlebt, als „Nachbarin“ und schafft sich mit dem Roman eine eigene Legitimität.
„Ich habe diese Geschichte ohne jede Erlaubnis geschrieben – allein damit ich beim Überqueren des Hofs, bevor ich das Tor öffne, endlich – wenn auch verspätet – sagen kann, er ist schön, dein Sohn“, hat sie dazu in einem Interview bekannt.
Kein Buch für Leute, die es schön und kuschelig lieben. Hier spielt nämlich das wahre Leben, eine Liebesgeschichte voller Stolz und Trauer.
Bewertung: ****
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