Die zerlegte Uhr, Symbol für das Erinnern

Gerhard Roth „Das Alphabet der Zeit“, 864 Seiten, 28 €, S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3100660602;

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Memoiren deutschsprachiger Schriftsteller haben immer irgendwie auch mit der NS-Zeit zu tun. Ob Günter Grass als Hitlerjunge oder jetzt dessen österreichischer Kollege Gerhard Roth, der auf über 800 Seiten nebst Bilder-Anhang seine ersten 20 Lebensjahre schildert.

Sie beginnt, wenn alles vorbei ist: Roth, Jahrgang 1942, schildert einen Fliegerangriff im Winter 1945 auf einen Zug – es ist seine erste Erinnerung. „Dier Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens“ wählt Roth als Motto seiner Autobiografie und gerät in die Falle, jede dieser Fata Morganen ergreifen zu wollen.

Das Werk ist opulent, aber um wirklich große Literatur zu sein, löst sich der Autor nicht weit genug von den Einzelheiten. „Seit seiner Kindheit war ihm klar, dass ihn ein Universum der Gleichgültigkeit umgab“, diesen Satz, den der Österreicher dem Helden seines 2000 erschienen Romans „Der Berg“ in den Mund legte, prägt auch Roths Gefühle zu seiner Jugend.

Nicht Gefühl und Liebe prägten seine ersten Jahre, sondern die Versuche der Eltern, sich nicht der eigenen Verantwortung zu stellen, sondern alle Klippen des Alltags verdrängend zu umschiffen. Als Roth mit 17 ein Kind zeugt, übernimmt der Vater die Alimentezahlungen, seelischen Beistand leistet er keinen.

In gnadenloser Strenge wird der Grazer erzogen – aber das hebt ihn nicht über seine Altersgefährten. Selbst zwei Generationen später empfindet Roth Hass auf den Vater, der ihn zum Medizinstudium zwang. Immerhin findet Roth in diesem irritierend sachlich geschilderten „Vater-Roman“ auch durchaus zur kritischen Reflektion mit sich selber.

Der seltsame anmutende Titel basiert auf einem Erlebnis des jungen Gerhards mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Paul. Dieser bekommt eine Taschenuhr geschenkt. Die beiden Buben nehmen sie Schräubchen für Schräubchen auseinander – auf der Suche nach der imaginären Zeit, die verborgen sein soll in dem Räderwerk.

Leider gelingt es den beiden nicht mehr, die Mechanik zusammenzusetzen. Das Bild dieser zerlegten Uhr verfolgt Roths von nun an – ein Symbol für die zerlegte Zeit und damit für die Erinnerungen in „Das Alphabet der Zeit“.

Bewertung: ****

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