Uwe Tellkamp „Der Turm – Geschichte aus einem versunkenen Land“, 976 Seiten, 24,80 €, Suhrkamp, ISBN: 978-3518420201;
Was soll man über dieses Buch noch schreiben? Es ist der beste Roman des Jahres, wie die Jury des Deutschen Buchpreises befand. Kritiker lobten das 100o-Seiten-Werk als „neues Buddenbrooks“, als „den Roman der DDR“, den Wenderoman. Beeindruckend ist vor allem die langsame, fast bedächtige Erzählweise – fast schon ein Anachronismus für unsere heutige Zeit.
Uwe Tellkampf führt die Leser an einem Dezemberabend des Jahres 1982 nach Dresden. Dort feiert der Chirurg Richard Hoffmann mit seiner ganzen Familie Geburtstag. Er ist der Vater von Christian, der Hauptfigur des Opus‘. Sein Elternhaus steht in einem alten Villenviertel, in das man standesgemäß mit der Seilbahn hinauffährt.
Endlos lang dauert dieser Einstieg in den Roman. Vielfach denkt der Leser an Ausstieg, will das Buch weglegen, aufgrund der fast quälend detaillierten Schilderungen von Christian und seinem Umfeld. Man sieht Dresden in allen Details vor sich, kann die Stadt riechen, hören, mit allen Sinnen wahrnehmen.
Uwe Tellkamp schreibt seine „Geschichte aus einem versunkenen Land“ (so der Untertitel) aus der Innensicht. Der gebürtige Dredner, Jahrgang 1968, wuchs systemkonform auf und war zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR Panzerfahrer bei der NVA.
Er studierte in Leipzig, New York und Dresden, wurde Arzt und hatte 2004 mit einem Fragment seines ersten Romans „Der Eisvogel“ seinen Durchbruch als er in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. „Ich glaube, wir haben einen großen Autor entdeckt“, wurde Iris Radisch damals zitiert.
Tellkamp begleitet Menschen, die im real-existierenden Sozialismus nicht vorgesehen waren. Eine merkwürdig bürgerliches Soziotop, denen die klassische Bildung über alles geht und die Politik nichts bedeutet. Sie glauben an den Humanismus und die Kraft des Privaten. Innerhalb der „Turmgesellschaft“, benannt nach dem Dresdner Stadtviertel, haben sie sich entpolitisierte Freiräume geschaffen.
„Gudrun zog sich ins Schlafzimmer zurück, repetierte Rollen oder stopfte, acht Fingerhüte auf den Fingern, was ein leises kastagnettenartiges Klackern erzeugte, Strümpfe in der Küche, wo die Schränke schiefhingen und die Fensterbretter vom Schwarzen Schimmel zerfressen waren, wo von den freiliegenden Rohren die Farbe platzte und Rezept-Stickereien für Salzburger Nockerln, Kürbissuppe und eine Speise mit dem Namen ‚Betriebsunfall‘ (ein außerordentlich wohlriechendes, widerlich aussehendes, von den Kindern mit langen Löffeln bewegtes Vielerlei) kaum die Wasserflecken an den Wänden verdeckten.“
Auf Seite 146 steht dieser Satz, und er ist exemplarisch für die bedächtigte, verschwurbelte und doch höchst faszinierende Erzählweise Tellkamps. Das muss man mögen, da muss man sich reinbeißen, da muss man Zeit investieren, diese höchst artifizielle Literatur muss man mögen.
Sich den „Turm“ nur ins Bücherregal zu stellen, dafür sind die 24,90 Euro wohl zu schade. Und das Schicksal der „Buddenbrooks“ oder des „Zauberbergs“ zu teilen, dafpr ist „Der Turm“ zu schade. Ein großer Wurf, in jeder Beziehung.
Bewertung: ****
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