Rüdiger Lubricht „Verlorene Orte, gebrochene Biografien“, 96 Seiten, 25 € (+ 6 € Versand) , IBB Dortmund und Minsk (auch Bestelladresse), ISBN: 978-3935950114;
Tschernobyl ist 25 Jahre danach aktueller denn je. Sechs Wochen nach Fukushima, wo die Gefahr noch längst nicht gebannt ist, spricht am heutigen Jahrestag jeder über das Reaktorunglück in der Ukraine. Und selbst wenn vieles inzwischen relativiert worden wäre, Fukushima hat alles wieder hervorgeholt – und die Politik zur Vernunft gebracht, wie das Ringen um einen baldigen Ausstieg deutlich gemacht. Der Fotograf Rüdiger Lubricht hat die Sperrzonen in der Ukraine und Weißrussland seit 2003 fast jährlich besucht. Zum Jahrestag erschien nun ein Bildband.
Nicht aber einer der großen deutschen Verlage hat diese bemerkenswerte Fotosammlung veröffentlicht, sondern das Internationale Bildungs- und Begegnungszentrumm (IBB) in Dortmund. Warum? Nun, das IBB unterhält in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ein Kultur- und Bildungshaus und kümmert sich in der letzten Diktatur Europas intensiv um Demokratiebildung. Tschernobyl liegt fast vor der Haustür, und gerade in den letzten Tagen wurden vom IBB aus mehrere internationale (Journalisten-)Gruppen ins Katastrophengebiet geleitet.
Der 64-jährige Lubricht hat die „verlassenen Orte“ fotografierte, jene Dörfer und Städte wie etwa Pribjat, die nach dem Reaktorunglück wegen des radioaktiven Fallouts blitzartig verlassen werden mussten. Alles ist dort so wie Ende April 1986. Nur, dass sich die Natur inzwischen viele der von Menschenhand geschaffenen Siedlungsflächen wieder zurückgeholt hat: Eingebrochene Dächer, von Wurzeln durchbrochene Straßen und Spielplätze.
Gleichwohl wirken die Fotos harmonisch. Lubricht nennt die Ästhetik seiner Arbeit mit Groß- und Mittelformatkameras „dekadent“.
Fast noch eindrucksvoller sind seine Porträts von den Menschen, die in und nahe der Todeszone leben. Vorwiegend sind es alte Leute (aber auch ein paar Kinder), die sich entweder weigerten zu gehen oder zurückkehrten und wieder so leben, als wäre nichts geschehen. Das G>esundheitsrisiko wo für nicht so schwer wie die Liebe zur HeimatViele sind vorzeitig gestorben, für andere hatte die Radioaktivität keine erkennbaren Folgen.
Bei den „Liquidatoren“, jenen Männern, die nach der Explosion ndes Reaktors dort löschen mussten und den Beton-Sarkophag bauten, ist das anders. Kaum einer der Überlebenden, die nicht gezeichnet sind von Krebs, Blut- und Herzerkrankungen. Lubricht hat viele von ihnen porträtiert, manche auch mit einem längeren Text über deren Leben.
Ein beeindruckendes Buch, und dem IBB ist für die Veröffentlichung zu danken. Ich selber werde nach einer ersten Reise im vorigen November auch im Juli wieder Gast des IBB in Minsk sein, um weißrussische Lokaljournalisten zu schulen. Die Arbeit dieses Bildungszentraums hat viele Facetten.
Bewertung: *****
Irgendwann mach ich die Idee wahr und fahre mal nach Tschernobyl mit meiner Kamera herunter. Katastrophen sind Meilensteine in der Geschichte, denn sie erinnern an unsere Fehler und man muss sich an sie erinnern und versuchen zu lernen.