Sofi Oksanen „Stalins Kühe“, 488 Seiten, 22,99 €, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3462043747;
Nein, mit Stalin hat dieser Roman nichts zu tun. Stalin ist zwar gerade wieder aktuell, wo sich die selbstbefreite Ukraine gegen russischen Rückeroberungsdrang wehren muss. Sofi Oksanen, Schriftstellerin mit Wurzeln dies- und jenseits der Ostsee (Finnland und Estland) beschreibt in diesem symbolaufgeladenen Erstlingsroman allerdings den Alltag in Finnland, wo die estnische Minderheit in Anbetracht der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs lange Zeit unterdrückt wurde.
Es sind die 80er Jahre. Anna, ein junges Mädchen, lebt mit ihrer Mutter zusammen, deren estnische Herkunft niemand erfahren soll. Denn die Esten gelten als Russen, und die Russen hielten Finnland besetzt und nahmen ihm Teile von dessen Territorium. Dieses Leben in der Selbstverleugnung, dieses Verstecken hinterlassen Spuren bei dem Mädchen. Anna flüchtet sich in eine Bulimie.
Das ist durchaus symbolhaft zu sehen. „Die Zentimeter eines Frauenkörpers sind ebenso wichtig wie die Staatsgrenzen. Genau definiert und jede Veränderung gibt eine Schlagzeile“, das ist der meist zitierte Satz des Romans. Und er macht deutlich, wie Oksanen eine Analogie setzt zwischen dem gestörten Körpergefühl Annas und dem gestörten gesellschaftlichen Gleichgewicht in ihrer Heimat Finnland.
Zwischen Fressen und Kotzen bewegt sich die junge Frau. Sie richtet ihre Aggressionen nach innen statt sie auszuleben. Das üble Gefühl, als estnisch-stämmige Frau von den Finnen als Hure betrachtet zu werden, dagegen der Stolz auf die eigene Herkunft. Oksana geht tief ins Detail. Ihr Roman wirkt manchmal etwas unfertig, etwas ungeschlacht – er ist so eine Art Vorstufe zu dem 2009 erschienenen Welt-Bestseller „Fegefeuer“.
Bewertung: *****