Martín Kohan „Sittenlehre“, 247 Seiten, 19,90 €, Suhrkamp, ISBN: 978-3518421826;
Argentinien war vorigen Herbst Gastland der Frankfurter Buchmesse, und dies hatte, wie schon in den Jahren zuvor, den erfreulichen Aspekt, dass Autoren in den (deutschen) Blickpunkt rückten, die bis dato kaum bekannt waren, so wie MartinKohan, Jahrgang 1967, der die unmenschlichen Verhältnisse in einem Elitegymnasium Anfang der 80er Jahre in Buenos Aires beschreibt.
Am Colegio Nacional geht es zu wie beim Militär. Bis zur Frisur ist alles streng geregelt, und wer das Klassenziel nicht schafft, der fliegt. „Sittenlehre“ nimmt die Perspektive einer Aufseherin ein. Jene Maria Teresa ist aber keine Ich-Erzählerin, es wird über sie und ihre Gefühle geschrieben. Dabei offenbaren sich heftige Unterschiede zwischen ihrer Perspektive und der von den Schülern erlebten Realität. Das ist die eigentliche Spannung dieses faszinierenden Romans. Denn die Schule steht im Dienste des Staates, eines Staates, in dem militärische Werte wie Drill und Gehorsam die entscheidende Rolle spielen.
Ordnung ist alles in diesem System: Die Mutter hört sich heimlich im Radio die neuesten Entwicklungen im Falkland-Krieg an. Und später geht ihr Kontrollwahn in dem auf Überwachungswahn basierenden System so weit, dass sie sich in der Toilette einschließt, nur um einen ihrer Schüler dabei zu erwischen, wie er heimlich raucht.
Dieses Knaben-Klo wird zu einem besonderen Ort. Die Frau ist verklemmt und gehemmt, bis sie in diesem unmenschlichen Klima aus Angst und Unterdrückung selber zum Opfer und von ihrem Chef brutal vergewaltigt wird. Die Junta ist weg, und alles verändert sich.
Ein Roman, der keine Gnade kennt.
Bewertung: ****