Jenseits von Sarrazin: Neue Sachbücher

Sarrazin ist nicht alles. Und es gibt mehr Themen als nur Integration von Einwanderern von Einwanderern. Ein paar spannende Sachbücher, erschienen diesen Herbst, stellen wir hier vor. Lesenswert!

Richard Wrangham „Feuer fangen“ (DVA)
Andrew I. Port „Die rätselhafte Stabilität der DDR“ (CH. Links)
Helm Stierlin „Sinnsuche im Wandel“ (Carl Auer)
Charles Fernyhough „Das Kind im Spiegel – Wie Bewusstsein entsteht“ (DVA)
Thomas Schuler „Bertelsmann Republik Deutschland“ (Campus)
Dean Falk „Wie die Menschheit zur Sprache fand“ (DVA)
Hans Mommsen “Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert” (DVA)
Ap Dijksterhuis „Das kluge Unbewusste“ (Klett-Cotta)

Viel Spaß beim Lesen!

Richard Wrangham „Feuer fangen“, 304 Seiten, 22,95 €, DVA, ISBN: 978-3421043993;

Warum sind wir Menschen anders als die Tiere? Warum können wir über uns selber nachdenken, sind erfinderisch und verstehen es sogar perfekt, unseren eigenen Lebensraum systematisch zugrunde zu richten. Richard Wrangham, Anthropologe an der Harvard-Universität, liefert mit diesem Buch eine ganz spannende Erklärung: Das Kochen von Essen macht den Unterschied.

Als der Mensch „erkannte“, dass über dem Feuer zubereitetes Essen leichter und schneller verdaulich ist als roh verzerrte Nahrung, verschaffte ihm das einen Vorteil in der Evolution. Er brauchte nicht mehr so ausgeprägte Kauwerkzeuge und war auch nicht mehr die meiste Zeit mit Verdauung beschäftigt.Und: Das Gehirn hatte den Platz zu wachsen.

Aber Kochen veränderte noch viel mehr, es beeinflusste Geschlechterrollen, und den Intellekt. Inzwischen – und das streift Wrangham in seinem Nachwort auch – geht der Trend wieder in die andere Richtig. Unser Essen ist zu energiereich, wir bewegen uns zu wenig, und die zunehmende Verfettung verkürzt unser Leben wieder. Nur an unserer Fähigkeit zu denken wird sich durch einen Umstellung zu mehr Rohkost nichts verändern.

Bewertung: ****

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Andrew I. Port „Die rätselhafte Stabilität der DDR“, 400 Seiten, 29,90 €, Ch. Links, ISBN: 978-3861535775;

Das habe ich nie verstanden: Warum konnte ein Unrechtsstaat wie die DDR 40 Jahre überdauern ohne ernsthafte Krisen im Innern (sehen wir mal vom Volksaufstand 1956 ab)? War’s der Milliardenkredit von Franz-Josef Strauß, der die marode Wirtschaft stützte, oder der Herausverkauf von Regimekritikern durch die Bundesrepublik? Oder tatsächlich die Mauer und die Stasi? Oder haben sich alle in der DDR so gut verstanden, wie der heutige Trend zur Ostalgie vermuten ließe?

Der amerikanische Historiker Andrew I. Port, Gastdozent am Zentrum für Zeitgeschichte in Potsdam, hat sich all diese Fragen gestellt und eine interessante Lösung gefunden: Demnach war es gerade die Basis der SED, die sich als Scharnier verstand und so auch immer mal wieder Kompromisse im Sinne des Volkes einging. Eine Art Puffer, der soziale Unruhen im Keim erstickte. Dazu kam noch, dass es keine wirkliche Einigkeit im Volk gab. Im Gegenteil, für eine wirkliche Revolution fehlte es an den gemeinsamen Interessen.

Port erklärt all dies anhand eines Beispiels aus der Provinz, der Wismutregion in Saalfeld/Thüringen. Schon 1951 hatte es dort gewalttätige Proteste gegen die unzumutbaren Arbeitsbedingungen gegeben. Nach deren Beendigung setzte es allerdings keine Kollektivstrafen, sondern es mussten nur die Anführer büßen, und die Arbeitsbedingungen wurden tatsächlich etwas verbessert.

Zudem solidarisierten sich auch die Arbeiter unterschiedlicher Branchen nicht miteinander, manche um die Privilegien nicht zu gefährden, andere um sie zu bekommen. So führte sich der Staat der Gleichen ad absurdum.

Bewertung: *****

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Helm Stierlin „Sinnsuche im Wandel“, 148 Seiten, 19,90 €, Carl Auer, ISBN: 978-3896707543;

84 Jahre alt ist Helm Stierlin inzwischen, einer der bekanntesten Psychologen und Psychoanalytiker, ein Schrittmacher der Familientherapie und als Forscher in Heidelberg Nestor der systemischen Therapien in Deutschland. Dieses Buch ist sein Vermächtnis.

Stierlin stellt am Ende seiner beruflichen Existenz die Frage nach dem Sinn, nach dem Sinn im Beruf wie im Leben. Und: Welchen Sinn macht überhaupt Psychotherapie? Der gebürtige Mannheimer, der zwei Jahrzehnte in den USA arbeitete, schildert die Veränderungen im Verständnis therapeutischer Arbeit seit Ende der Nazizeit.

Er schildert seine Vorlesungen bei Karl Popper und die Anfänge der Familientherapie in dem heute nach ihm benannten Institut in Heidelberg. Und nimmt uns Leser mit auf eine Reise der Erkenntnis.

Bewertung: *****

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Charles Fernyhough „Das Kind im Spiegel – Wie Bewusstsein entsteht“, 352 Seiten, 22,95 €, DVA, ISBN: 978-3421043962;

Die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes sind entscheidend, das ist keine neue Erkenntnis. Aber in diesem Buch geht es nicht um die Erfahrung der Liebe und um das Übel von Vernachlässigung, hier geht es um die Entstehung des Bewusstseins.

Für den britischen Entwicklungspsychologen Charles Fernyhough war die eigene Tochter das Studienobjekt. „Mit Athenas Geburt hatte das Phänomen, das mich aus der Distanz so fasziniert hatte, auf wunderbare Weise direkt vor meinen Augen Gestalt angenommen.“

Das wenigste von dem, was Babys in dieser Zeit lernen, erkennen wir Erwachsenen. Es geht nicht um Laufen und Sprechen, sondern um viel, viel mehr –  um das Unterscheiden von Objekten und Personen, um das Erkennen des eigenen Ichs, um das Koordinieren von Gefühlen und Fakten, kurzum um alles, was aus dem Baby ein eigenständiges Wesen macht.

Eine gute Idee, Wissenschaft am eigenen Kind zu erklären.

Bewertung: ****

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Thomas Schuler „Bertelsmann Republik Deutschland“, 304 Seiten, 24,90 €, Campus, ISBN: 978-3593390970;

Irgendwas passt nicht an diesem Buch: Eine exzellent recherchierte Geschichte über eine der mächtigsten Familien im Land, und doch findet sich „Bertelsmann Republik Deutschland“ auf keiner der einschlägigen Bestsellerlisten. Was hat Thomas Schuler falsch gemacht?

Keine Angst, eine Antwort auf diese Frage gibt’s an dieser Stelle. Ich weiß sie nämlich nicht. Was ich weiß ist, dass Thomas Schuler in ein Thema hinein gestochen hat, das dringend erhellt werden muss: Welchen Einfluss haben Stiftungen auf die Politik in unserem Land?

Für Schuler ist die Bertelsmann-Stiftung nichts anderes als ein Steuersparprojekt für den gleichnamigen Konzern. Und da mag er nicht unrecht haben. Etwas blindwütig ist er womöglich in der Bewertung der politischen Tendenz der Studien der Stiftung. Egal, wie man es sieht, sie haben viele Reformen angestoßen, gerade im kommunalen Bereich. Und das ist ein Verdienst.

Bewertung: ****

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Dean Falk „Wie die Menschheit zur Sprache fand“, 320 Seiten, 24,99 €, DVA, ISBN: 978-3421043276;

Und noch ein anthropologisches Buch zu einem Thema, das uns Menschen von den Tieren unterscheidet (siehe oben): Wie entstand die Sprache? Auch hier hat die Wissenschaftlerin Dean Falk in erster Linie genau hingeschaut, bei Schimpansen und bei Menschen.

„Putting the Baby down“ heißt Falks zentrale Hypothese. Während sich Schimpansen-Babys schon kurz nach der Geburt selbsttätig im Fell ihrer Mütter festklammern können, ist dies bei Menschen-Muttis nicht möglich. Sie müssen ihr Baby also ablegen, wenn sie mehr als eine Hand brauchen.

Damit ihr Kind nicht schreit und auf diese Weise Feinde anlockt, sprechen sie in beruhigender Weise auf ihr „Junges“ ein – „Ammensprache nennt man das, und sie ist weltweit universal.

Und daraus entwickelten sich dann im Laufe der Jahrtausende die Sprachen – und die (Kinder)lieder.

Eine faszinierende und sehr schlüssige These, die vieles erklärt, aber nicht alles. Denn  auch für die frühen Jäger dürfte sich Sprache als sinnvoll erwiesen haben, bei der gemeinsamen Treibjagd. Ob auch die sich aus Kindergebrabbel entwickelt hat?

Bewertung: ****

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Hans Mommsen „Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“, 400 Seiten, 24,99 €, DVA, ISBN: 978-3421044907;

Hans Mommsen, Jahrgang 1930, ist immer für eine Schlagzeile gut, wenn sich Historiker streiten. Vor allem im berühmten „Historikerstreit“ vor knapp 30 Jahren profilierte sich der Sohn des Nobelpreisträgers von 1902, Theodor Mommsen, als streitgewaltiger Verfechter der These, dass für den Nationalsozialismus nicht nur dessen Führer, sondern auch das deutsche Volk Verantwortung trug.

In der vorliegenden Sammlung von (weitgehend unveröffentlichten) Aufsätzen finden sich Mommsens Thesen zum Ersten Weltkrieg zum Aufstieg des Nationalsozialismus, zu Widerstand und zur Krise des Systems.

Eine Pflichtlektüre für alle, die sich dafür interessieren, warum es so passierte, wie es passierte.

Bewertung: *****

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Ap Dijksterhuis „Das kluge Unbewusste“, 251 Seiten, 19,90 €, Klett-Cotta, ISBN: 978-3608945607;

Seit Sigmund Freund wissen wir um die Rolle des Un(ter)bewussten. Inzwischen ist die Forschung längst weiter und weiß um die Mechanismen, mit denen das Unbewusste unser Handeln bestimmt. Ap Dijksterhuis, Professor für Sozialpsychologie im holländischen Nimwegen, ist anerkannter Experte. Er hat die Theorie des „unbewussten Nachdenkens“ entwickelt.

Da geht es um Alltäglichkeiten: warum geben wir dem einen Kellner mehr Trinkgeld als dem anderen? Woher wissen Schüler schon nach wenigen Augenblicken, ob ihr neuer Lehrer ein guter ist? Und wie funktioniert die Liebe auf den ersten Blick?

Wer diese Mechanismen versteht, kann sein eigenes Handeln besser reflektieren und im besten Fall sogar beeinflussen. Dijksterhuis hat ein kluges Buch geschrieben, eines das auch der Laie versteht. Und wer nicht wusste, warum man vor wichtigen Entscheidungen eine Nacht schlafen soll, hier gibt’s die Antwort.

Bewertung: *****

 

Eine Empfehlung: http://www.wir-im-gespräch.de/


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3 Gedanken zu „Jenseits von Sarrazin: Neue Sachbücher

  1. Als der Verfasser von „Rätselhafte Stabilität der DDR“, möchte ich mich bei Ihnen für die netten Zeilen sehr herzlich bedanken – und auch einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen!

  2. Hossa, Sie sind aber fix. Freut mich, dass Ihnen die Buchvorstellung gefällt. Ich wünsche Ihnen auch ein freudiges 2011 – und einen guten Verkauf Ihres wirklich spannenden Buchs.

  3. Das Buch mit dem Titel “Das kluge Unbewusste” ist in dieser Liste mein Favorit. Die anderen Bücher (ich habe sie nicht alle gelesen), sind – soweit ich das beurteilen kann – aber auch sehr gut geschrieben. Es ist letzten Endes halt auch immer eine Frage, welche Themen man bevorzugt. Ich persönlich lese sehr gerne fachliche Bücher, vor allem wissenschaftliche Abhandlungen. Für manch einen mag dies langweilig klingen, für mich sind solche Bücher geballte Spannung.
    “Das kluge Unbewusste“ hat dabei genau meinen Geschmack getroffen, auch wenn ich das Buch wieder viel zu schnell durch hatte 😉

    Ihnen, Herr Port, möchte ich ebenfalls zu Ihrem Werk gratulieren, sofern Sie diesen Kommentar noch lesen. “Rätselhafte Stabilität der DDR” ist eine hervorragende Wahl für den Titel des Buches.

    @Joachim:
    Eine wirklich schöne Zusammenfassung ist das geworden. Solche Listen würde ich mir in diesem Blog öfter wünschen. Denn auch, wenn dann ab und zu mal ein Buch beschrieben wird, das man persönlich nicht so sehr mag, so hat man in diesen Listenbeiträgen immer reichlich Alternativen. Ein Beitrag pro Woche könnte dann auch schon fast ausreichen, denn so hat man Gelegenheit, die ggf. noch unbekannten Bücher bis zur nächsten Liste zu lesen 😉
    Jedenfalls ein toller Beitrag! Danke!

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