Joachim Zelter „Der Ministerpräsident“, 188 Seiten, 18,90 €, Klöpfer & Meyer“, ISBN: 978-3940086839;

Bei Kabinett denkt er an Raritäten, nicht an Minister. Und von seiner Frau kennt er nur noch die Telefonnummer, weiß nicht mal, warum man eine Frau haben sollte und ob nicht ein Fahrrad sinnvoller wäre. Claus Urspring ist Ministerpräsident, und er hatte einen schweren Unfall, der ein zehntägiges Koma verursachte. Nun kümmern sich um ihn sein Mitarbeiter Julius März und andere Berater. Denen geht es aber vor allem um sich selber.

Es gibt viele Geschichten über das entmenschlichte Politikgeschäft, auch Filme mit Doppelgängern und anderen, doch dieser schmale, burkleske Roman ist anders. Ein Märchen? Nein. Grotesk? Ja. Realistisch? Ein bisschen schon.

März kümmert sich intensiver als andere um seinen Chef und Ministerpräsidenten. Aber er hat auch ein Ziel. Er will den kranken, desorientierten Menschen fit machen für die nächste Wahl, denn ein Verlust des Amtes wäre für die seit 50 Jahren regierende Partei – Ähnlichkeiten zu Zelters Heimatland Baden-Württemberg sind sicher rein zufällig – eine Katastrophe.

Urspring muss auswändig lernen, was er nicht mehr kennt: Namen, Zusammenhänge, Daten und natürlich wie seine Minister so drauf sind, etwa der  Justizminister: „Rechthaberisch“. Im Gegenzug versucht eine Ärztin, Ursprings eigene Erinnerungen zu wecken („Auch ein Ministerpräsident hat das Recht zu wissen, wer er ist.“). Erfolglos.

Und so muss der nicht mehr selbstbestimmte Mensch dieses Spiel Politik und Macht mitspielen. Seine Reden lernt er auswändig, geschrieben – oder besser: gepuzzelt – werden sie von einer Tonmeisterin. Sie fügt Phrasen und Satzfetzen so zusammen, dass Politikerreden entstehen, also bombastische Worthülsen, denen jeglicher Inhalt und jede Festlegung  fehlt. Urspring und seine „Redenschreiberin“ Hannah kommen sich näher.

Und das stört natürlich die Pläne der Partei: Mitten im Wahlkampf brechen der Ministerpräsident und die junge Frau aus …

Eine wunderbare Politsatire. Meisterhaft spielt Zelter mit der Sprache und schafft beim Ich-Erzähler Urspring Distanz zu sicher selber, in dem er ihn in direkter Rede sprechen lässt. Ein kleiner, aber feiner Kunstgriff, wohldurchdacht, wie so vieles in diesem lesenswerten Roman. Zu Recht landete er 2010 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2010.

Bewertung: *****


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Lauter Lesenswertes

Ministerpräsident ohne Gedächtnis

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