Großzügig mit Bier in großen Krügen

Ilija Trojanow „Oberammergau: Richard F. Burton zu Besuch bei den Passionsspielen„, 272 Seiten, 22 €, Arche, ISBN: 978-3716026335;

Die Passionsspiele in Oberammergau sind ein Mysterium der Moderne. Ein ganzes Dorf, alle zehn Jahre vereint in Frömmigkeit und Spektakel. Und wieder waren die über 100 Vorstellungen – die letzte am 3. Oktober fast ausverkauft mit Besuchern aus aller Welt. Vor 130 Jahren war das nicht anders: Damals besuchte der Entdecker Richard Burton das wilde Ammergebirge.

Oberammergau ist anders. Damals wie heute. Per Volksentscheid überstimmten die Dorfbewohner den Gemeinderat, als dieser das defizitäre Schwimmbad schließen wollte, sie verweigerten sich Olympia und auch das von von Volkstheater-Intendant überarbeitete Passionsspiel wurde mit der Mehrheit der Bürger angenommen. Das ist Oberammergau 2010.

Und wie war O’ammergau 1880? Vermutlich auf Wunsch seiner katholischen Ehefrau kam der britische Entdecker Richard Burton ins finstere Oberbayern, nachdem er unter Lebensgefahr als Pilger getarnt nach Mekka gereist und die Quellen des Nils erforscht hatte.

Trotzdem war Burton über die bayerischen Ureinwohner und deren süffige Vorlieben höchst irritiert: „Die Galerie auf den vierten Plätzen war großzügig mit Bier in großen Krügen versorgt. Ich war erstaunt, dass dies erlaubt ist.“ Amüsiert und bewundernd zugleich berichtet der Weltenbummler über das Ereignis und mokiert sich über fehlende Genauigkeit, etwa beim Einsatz der römischen Waffen.

Die Bayern erscheinen ihm wie rückständige Tölpel und die Passionsspiele als Laientheater. Sind sie – oder besser: Waren sie – natürlich auch. Da hilft es natürlich, dass Herausgeber Ilija Trojanow, seit seinem Burton-Buch „Der Weltensammler“ ein ausgewiesener Experte, mit farbig abgesetzten Kommentare die Darstellungen des Briten immer wieder einordnet, manchmal auch entschärft oder einfach nur rotzig kommentiert.

Die Passionsspiele in Oberammergau gibt es übrigens seit 1633. Sie gehen zurück auf ein Gelübde aus der Pest-Zeit. Schon vor 100 Jahren kamen fast 150.000 Besucher aus der ganzen Welt. Die bis heutige gültige Fassung des Schauspiels schrieb vor 150 Jahren Ortspfarrer Josef Alois Daisenberger, Stückl bereinigte ihn sukzessive um antisemitische Passagen.

Burtons „Oberammergau“, vom Arche-Verlag übrigens zweisprachig veröffentlicht, also auch im englischen Original, ist eine gute Nachbereitung für Passionsbesucher 2010, eine Vorbereitung für Passionsbesucher 2020 und eine Fundgrube für all jene, die gar nicht ahnen, wie kometenhaft der Aufstieg der Bayern von der Lederhose zum Laptop wirklich war.

Bewertung: ****

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