Ayse Kulin „Der schmale Pfad“, 288 Seiten, 19,90 €, Union (Türkische Bibliothek), ISBN: 978-3293100183;

In den 1980er-Jahren waren es die Männer, die Linken, die Widerstand leisteten gegen das autoritäre, militaristische Regime der Türkei, in den 2000-er Jahren waren es vor allem die Frauen, die Schriftstellerinnen, die den Wandel forderten. Autorinnen wie Oya Baydar mit ihrem beeindruckenden Roman „Verlorene Worte“ oder eben Ayse Kulin, deren 2005 erschienener Roman „Der schmale Pfad“ nun in der türkischen Bibliothek in deutscher Veröffentlichung erschienen ist.

Zwei Frauen stehen in diesem straff durch konstruierten Werk für den Gegensatz zwischen Kurden und Türken. Die eine, Zeliha Bora, ist eine kurdische Abgeordnete, die ins Gefängnis musste wegen des abstrusen Vorwurfs der „Seperatisten-Propaganda“. Die andere Nevra Tuna ist Türkin und Journalistin. Sie arbeitet als Kolumnistin für eine Zeitung, ist westlich orientiert, laizistisch und will nun mit dem einen, dem großen Wurf, dem Interview mit Bora ihre Karriere retten.

Die beiden treffen sich im Gefängnis. Sie begegnen sich mit Misstrauen, sie diskutieren, sie beschimpfen sich. Offizielle Türkei-Doktrin trifft auf kurdische Wünsche nach einer (fürs unsere westliche Empfindung selbstverständlichen) Forderung nach eigener Kultur und Sprache. Es kommt zum Eklat. Bora will das Gespräch beenden, als die Journalistin sich offenbart. Sie, Tochter eines türkischen Landrats, und die Kurdin waren als Kinder beste Freundinnen.

„Romane sind keine didaktischen, pädagogischen, lehrreichen Sachbücher. Niemand liest einen Roman, um etwas zu lernen. Deshalb habe ich mich darauf beschränkt, auf die Probleme hinzuweisen. Im Gegensatz zu dem, was manche Kritiker glauben, werden Lösungen nicht von Romanen geschaffen, sondern von Politikern und Staatsmännern“, hat die 1941 in Istanbul geborene Schriftstellerin in einem Interview gesagt. Und doch benutzt sie die beiden Frauen als Vehikel, um die Sinnlosigkeit und die Tragik des türkischen-kurdischen Konflikts zu beleuchten, der die demokratische Gesellschaft dieses Landes bis heute in einer verhängnisvollen Starre hält.

Kulin ist Tochter einer Tscherkessin und eines Bosniers, sie ist also die gelebte Minderheiten-Problmeatik der heutigen Türkei, in der Abstammung entscheidend ist. „Der Terror kostet Menschenleben, aber diese Starre tötet die Seelen der Menschen“, heißt es einmal. Und doch lautet die Botschaft dieses Romans: Ihr seid alle vom selben Stamm, ihr müsst miteinander reden, um euch zu verstehen.

Gerade für Nicht-Türken bietet dieser Roman viele Einblicke in die mittelalterlich anmutende Stammesgesellschaft der Kurden, in der Ehre und Familie die wichtigsten Werte zu sein scheinen. Kulin bedient sich eines Stammesältesten, um aufzuzeigen, nach welchen Normen diese Gesellschaft seit jeher fuinktioniert.

Auf der anderen Seite steht die türkische Moderne, Konsum geprägt und Europa orientiert, die die in Ostanatolien lebenden Landsleute als Menschen zweiter Klasse degradiert und sie vom Fortschritt ausschließt, in dem sie Sprache und Kultur verbieten. Ein Konflikt, der – wie man den Nachrichten entnehmen kann – das Land bis heute zerreißt.

„Der schmale Pfad“ ist ein wichtiges Buch für die Türkei und für Nichttürken ein wichtiges Buch zum Verständnis der Situation dort. Die mitunter formelhaften Dialoge dienen einem ehrenwerten Ziel. Angesichts der Informationsdichte sind sie verständlich. Wo die Baydar poetisch ist, ist Kulin politisch. Für jeden, der die Türkei heute verstehen möchte, ist dieser Roman Pflichtstoff, nicht zuletzt wegen des hervorragenden Nachworts von Jens-Peter Laut.

Bewertung: *****



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Lauter Lesenswertes

Ein schmaler Pfad, der zur Versöhnung führt

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