Die Themen Integration und EU-Beitritt der Türkei sind zurzeit aktuell wie selten zuvor und zwar nicht deshalb, weil Außenminister Westerwelle vor 14 Tagen in Istanbul wieder Solidarität mit dem Bosporusstaat vermittelte. Eine ganze Reihe interessanter Sachbücher sind dazu in jüngster Zeit erschienen. Ein paar Empfehlungen gibt’s an dieser Stelle.

Die Titel:

Pinar Selek „Zum Mann gehätschelt – Zum Mann gedrillt“
Armin Laschet „Die Aufsteiger-Republik – Zuwanderung als Chance“
Ruprecht Polenz „Besser für beide – Die Türkei gehört in die EU“
Stefan Schmid „Integration als Ideal – Assimilation als Realität“
Nevim Cil „Topographie des Außenseiters“

Wer mehr wissen will:



Pinar Selek „Zum Mann gehätschelt – Zum Mann gedrillt“, 237 Seiten, 18 €, Orlando, ISBN: 978-3936937732;

Vor gut zwei Jahren habe ich Pinar Selek in Istanbul kennengelernt. Als Mitglied einer deutschen Journalistengruppe trafen wir sie in einem Frauenzentrum und sie erzählte von ihren feminstischen Forschungen, von den Leiden türkischen Frauen und der stärker werdenden Bürgergesellschaft, die eine Bedrohung für die alten Autoritäten geworden ist.

Mit ihrem kurz darauf erschienenen Buch über „Männliche Identitäten“ trifft sie frontal das Herz des türkischen Machotums, das Militär. In 58 Interviews hat sie die Lebenswege türkischer Männer nachvollzogen, Dreh- und Angelpunkt waren immer die Erfahrungen im Wehrdienst: Ein Mann zu werden heißt erst einmal gebrochen zu werden.

Der erste Initiationsritus ist indes die Beschneidung des kleinen Jungens. Sie steht am Beginn der Entfremdung vom Weiblichen, der Mutter. Dann  folgt der Wehrdienst mit Drill und striktem Gehorchen, zum Schluss das Finden einer Arbeit, die Heirat und das Zeugen eines Kindes (natürlich eines Sohnes).

Selek lässt kein gutes Haar an dem aus ihrer Sicht demokratiefeindlichen System der Türkei, das nicht Staatsbürger produziert, sondern Untertanen. Und sie sieht die Türkei als exemplarisch an für viele vom Militär geprägte Gesellschaften.

Interessant wird das Buch, wenn man es auf türkische Migranten in Deutschland überträgt, deren Festhalten am tradierten Wertesystem oft stärker ist als in ihrem Heimatland. Wie der Mann zu sein hat: „Wenn nötig soll er Gewalt anwenden, aber diejenigen, die ihm unterstehen, lieben und beschützen. Er muss also gleichzeitig ,prügeln‘ und ,lieben‘ können.“

In der Türei wurde Seleks Buch übrigens äußerst widersprüchlich aufgenommen. Zwar ist es inzwischen in vierter Auflage erschienen, allerdings waren die Drohungen gegen die 39-Jährige so heftig, dass sie die letzten zwei Jahre in Deutschland lebte. Aber Widerstand ist die hart wirkende Frau gewohnt: In den 90er Jahren saß sie schon wegen angeblicher terroristischer Aktivitäen unschuldig im Gefängnis.

Eine interessante Anhandlung, aber Interesse für das etewas abseitige Thema muss schon da sein.

Bewertung: ****

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Armin Laschet „Die Aufsteiger-Republik – Zuwanderung als Chance“, 304 Seiten, 19,95 €, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3462041057;

Armin Laschet ist ein Pionier. Er war in Düsseldorf der erste Landesminister für Integrationin Deutschland und als solcher so erfolgeich, dass er sogar als künftiger Ministerpräsident gehandelt wurde. Initiativen wie landesweite Sprachtests im Kindergarten hatten bundesweit Vorbildcharakter.

Und nun schreibt der CDU-Politiker seinen Parteifreunden und allen, die es noch lesen wollen, ins Stammbuch, dass diese Republik eine neue  Vision braucht, nämlich die der Chancengleichheit zwischen Eingeborenen und Migranten. Er vergleicht diesen Aufbruch mit den 50er, 60er-Jahren, als aus Arbeitern Meister und aus Meistern Ingenieure wurden und das Wirtschaftswunder Wohlstand für (fast) alle brachte.

Ein faszinierender Gedanke und in sich schlüssig ist diese „Dritte Einheit“ und eine gute Grundage für eine künftige Integrationspolitik. Und so notwendig, denn Deutschland ist schon längst – per saldo – keine Einwanderer- sondern eine Auswandererrepublik. Und wie sollen soziale Standards erhalten bleiben, wenn die fehlen, die sie finanzieren?

Hessen-Kochs Brutalo-Parole „Kinder statt Inder“ ist längst überwunden, glaubt Parteifreund Laschet: Mit solcher Polarisierung sei kein Wahlkampf mehr zu gewinnen (Laschet hatte übrigens seinerzeit gegen den Slogan protestiert).

Der Islam ist für Lachet kein religiöses, sondern in soziales Problem, ebenso wie Parallelgeselschaften, wie sie sich in Großstädten längst breit gemacht haben. Der einstige Bundes- und Europaabgeordnete, ein guter Freund des grünen Multi-Kulti-Propheten Cohn-Bendit appelliert darum, mit der Bildungsförderung möglichst früh und umfassend einzusetzen.

Wer würde da widersprechen?

Bewertung: ****

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Ruprecht Polenz „Besser für beide – Die Türkei gehört in die EU“, 100 Seiten, 10 €, Edition Körber-Stiftung, ISBN: 978-3896841414;

Was gab es im Vorfeld für ein Rumgetue um dieses Buch? Angekündigt zur Veröffentlichung erschien es dann doch erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Nun, genutzt hat das der CDU in NRW,in deren Vorstand Polenz sitzt, ganz und gar nicht, wie man weiß.

Vielleicht hätte Polenz‘ Plädoyer für einen EU-Beitritt der Türkei der Rüttgers-Regierung sogar Stimmen bei den vier Millionen Migranten gebracht. Als Vorstzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag darf man annehmen, dass der Christdemokrat weiß, was er will, umso größer die Freude über diesen bemerkenswert unideologischen Essay.

Polenz finet viele Gründe, warum der Türkei der EU-Beitritt auf mittlere Sicht möglich sein soll, vor allem aber findet er keinen dagegen. Gängige Schlagwörter wie Islamisierung (wo steht, dass die EU ein christlicher Verein ist?), ungehinderter Arbeitskräfte-Einwanderung (schon jetzt gehen mehr Türkischstämmige in die Türkei zurück alshierher einwandern) und die ökonomischen Unterschiede („Die Kosten sind Verhandlungssache“) entkräftigt Polenz ganz cool.

Und findet darüber hinaus wesentliche außenpolitische Gründe, warum die Türkei die Beitrittsoption bekommen soll. Natürlich hält auch Polenz das 90-Millionen-Einwohner-Land noch nicht für reif für den Beitritt und schlüselt auch auf, woran es fehlt. Aber eine Hoffnung sollte es geben.

Und wenn die Kriterien erfüllt werden, ist die Türkei ein anderes Land als heute. Der Beitritt würde in jedem Fall beiden helfen.

Ein wichtiges Buch, ein gut argumentierendes Buch, dass die Debatte aus der muffigen, antiislamischen Stoiberschen Angstsphäre herausholen sollte.

Bewertung: *****

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Stefan Schmid „Integration als Ideal – Assimilation als Realität“, 310 Seiten, 46,90 €, V & R Unipress, ISBN: 978-3899717839;

Die ist ein Buch für Leute, die mehr wissen möchten, genauer esagt, für jene, die sich aus professioneller Sicht mit der Integration türkischstämmiger Mitbürger befassen. Autor Stefan Schmid hat für seine Untersuchung, die Erwartungen und Wirklichkeit abgleichen soll, Dutzende Interviews geführt.

Schmid hat persönliche Einschätzungen abgefragt, wie auch das Verhalten in Alltagssituationen. Und sein Ergebnis ist,  „dass Integration nicht allein von der Einstellung der Beteiligten abhängig ist, sondern auch stark von deren sozialer und interkultureller Kompetenz“. Vielfach gibt es längst keine Unterschiede mehr. Die Kulturen haben sich auf persönlicher Ebene angenähert.

Nur für wissenschaftlich geschulte Fachleute!

Bewertung: *****

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Nevim Cil „Topographie des Außenseiters“, 304 Seiten, 32 €, Schiler, ISBN: 978-3899301922;

Ein nur auf den ersten Blick abseitiges Thema: Der Fall der Mauer und die in Deutschland lebenden Türken. Die jubelten nämlich, als  vor 20 Jahren die Wiedervereinigung kam, bis sie bemerkten, die Alteingesessenen beziehen sie gar nicht mit ein. Nevim Cil hat sich in ihrer Doktorarbeit mi dem Thema auseinandergesetzt.

Cil, die in Berlin Religionswissenschaften, Ethnologie und Politologie studierte und an der Humboldt-Universität nun als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist, hat  Migranten interviewt und sich mit ihnen über den Mauerfall, sich mit ihnen aber auch über die anschließenden ausländerfeindlichen Exzesse in Mölln (1992) und Solingen (1993) auseinandergesetzt. Auslöser war eine „Nationalisierungswelle“ durch die deutsche Einheit.

Plötzlich hieß es, das Boot ist voll. Cil sprach mit Migranten verschiedener Altersgruppen, der jüngste war 22, der älteste 72. Für alle war der Zusammenbruch des Ostblocks ein Anlass zum Feiern. Aber: „Die Mauer ist gefallen, und ein Jahr später ist sie uns auf die Köpfe gefallen“, formuliert es der 57-jährige Metin E.

Ein hochspannendes Thema mit interessanten Ergebnissen. Niemals wäre ich von mir aus darauf gekommen, dass der Fall der Mauer solche Konsequenzen hatte.

Bewertung: *****


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Lauter Lesenswertes

Einwanderer, Macho-Männer und ein EU-Kandidat

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