Wer Islam hört, denkt meist an 9/11, an Selbstmordattentäter, an verschleierte Frauen und an die (angeblich) fehlende Aufklärung. Das ist aber nur eine von vielen Sichtweisen, just die, die unser europäisches Denken ins Zentrum stellt und die hochstehenden islamischen Kulturen und deren Inspirationen über die Jahrhunderte einfach außer Acht lässt. Tamim Amsarys „Globalgeschichte aus islamischer Sicht“ räumt damit auf – mit den Mitteln der Literatur.
Tamim Ansary, geboren 1948 in Kabul, ist Sohn eines Afghanen und einer Amerikanerin mit finnisch-jüdischen Wurzeln. Er lebt heute mit seiner Familie in San Francisco und lektoriert, wenn er nicht gerade selber schreibt, Schulbücher. Er kennt also das Geschichtsbild der Europäer genauso wie die Perspektive, die im Nahen und Mittleren Osten gepflegt wird. Und – auch das ist wichtig – er ist kein Historiker, er erzählt die Geschichte, mitunter witzig, immer aber sehr lebendig.
Und Ansary holt uns aus unserer postkolonialen Überheblichkeit heraus. Für uns Europäer startet die (Welt-)Geschichte nach den Hochkulturen im Zweistromland mit Griechenland, geht weiter mit Rom über Mittelalter, Aufklärung und Französische Revolution bis zur Industrialisierung und der Gegenwart.
In der islamischen Welt ist die Sicht eine andere: Davor gab es im Vorderen Orient die Reichsgründung der Perser, danach Achämeniden, Parther und Sassaniden. Dann kam der Islam, das Kalifat. Der Einfall mongolischer Nomaden beendete die kurze Blüte, ähnlich wie die Germanen, die Roms zerstörten.
Die Osmanen schufen ein riesiges Reich, das bis vor die Tore von Wien reichte, bevor es ab Ende des 19. Jahrhunderts langsam zerfiel. Und im Osten, in Indien, schufen die moslemischen Mogulherrscher ein kulturell hochstehendes, wohlhabendes, klug regiertes Reich – in der westlichen Geschichtsschreibung kommt all dies nur in Halbsätzen vor, abgesehen natürlich von der bis heute existierenden Türkenangst.
Auf vielen Wegen führt Ansary die Leser zur Frage: Was ist eigentlich der Islam, um dann deutlich zu machen, dass diese Religion zu vielfältig ist, um sie in ein paar Sätzen zu erklären und schon gar nicht so, wie wir das spätestens seit dem 11. September 2001 (hier endet das Buch) im Westen gewöhnt sind.
Und so werden auch angebliche zentrale Fragen wie die nach der Rolle der Frau im aus dem jeweiligen kulturellen Kontext bewertet, etwa die über die angebliche Unterdrückung der Frau: Wo wir individuelle Rechte betonen, geht es für den Muslim nicht um Ungleichheit, sondern um Rollenbilder. Politisch betrachtet: Wo der Westen nur Freiheit und Demokratie verbreiten will, bewerten dies die Betroffenen als Dekadenz und Bruch mit den Traditionen.
Ein Buch, das tatsächlich den Horizont erweitert.
Bewertung: *****