Gelehrte sind in der Politik selten geworden, die Männer und Frauen, die über den Tellerrrand hinausschauen. Heiner Geißler, den eine große Zeitung kürzlich zu dessen 80. Geburtstag als „Missionar der CDU“ würdigte, ist einer von ihnen. In diesem Alter macht Geißler natürlich keine Politik mehr, er schreibt kluge Bücher, solche wie „Ou Topos“.
In meinem Journalistenleben habe ich viele hoch dekorierte Politiker kennengelernt und fast ebenso viele nach kurzer Zeit wieder vergessen. Heiner Geißler, der mir Mitte der 90er Jahre einen Preis überreichte, blieb mir in Erinnerung.
Der ehemalige CDU-Generalsekretär, einst Freund von Helmut Kohl, dann dessen Kritiker, hat Ausstrahlung. Und darum nahm ich dieses Buch gerne zur Hand (im Gegensatz zu den sonstigen Politiker-Ach-wie-bin-ich-wichtig-Ergüssen). Ich hab’s nicht bereut.
„Ou Topos“, griechisch für den Ort, den es nicht gibt und besser bekannt als Utopia, ist für Geißler der Schlüssel menschlichen Trachtens. Der einstige Jesuitenschüler setzt sich kritisch mit Religion zusammen und bekennt sich zu seinem Glauben an Gott, auch wenn dieser eben nicht volkstümlicher Frömmigkeit entspricht.
Der Sozialpolitiker Geißler schreibt über Hartz IV und den überbordenen Kapitalismus, natürlich hat Geißler gravierende Einwände: „Das Kapital ist im Lichte des Evangeliums keineswegs per se schlecht, aber es hat den Menschen zu dienen und nicht den Menschen zu beherrschen.“
In mancher Hinsicht ist der unbequeme Geißler Querkopf geblieben, bei Themen wie Zuwanderung zieht er sich auf einen rechtlichen Ansatz zurück und bleibt seltsam blass. Aber auch hier benennt der examinierte Philosoph die Toleranz als oberstes Handlungsprinzip.
Das Buch ist vieles: Lebensbeichte und Essay, euin Vermächtnis und eine Gesellschaftskritik. Es hat keinen roten Faden, sondern mäandert stattdessen durch die Themen, wie ein träger Fluss, dafür aber ein verdammt tiefer. Lesenswert!
Bewertung: ****
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