Johannes Odenthal/Cetin Güzelhan (Hrsg.) „Istanbul Next Wave“, 245 Seiten, 20 €, Steidl, ISBN: 978-3865219787;
Angela Merkel ist diese Woche nach Istanbul gereist, begleitet von allerlei Trara und der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei. Dabei gehört die Türkei längst zu Europa. Wer’s nicht glaubt, der möge „Istanbul – Next Wave“ lesen, den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, bei der die Akademie der Künste Berlin Ende 2009 zeitgenössische Kunst der Türkei vorstellte.
Künstler wie Sükran Moral, Neriman Polat oder Altan Gürman sind bislang nur in Fachkreisen bekannt. Zu Unrecht: Moral etwa überbringt ihre politischen Botschaften in einer Freizügkeit, die islamisch geprägten Kulturen gemeinhin nicht zugetraut werden. Ihre Video-Performances zeigen die 498-Jährige selbst als Frau im Hamam, allein, nackt unter lauter Männern oder als Hure in einem Bordell.
Die Ausstellung erregte viele Aufsehen. Zu Recht, wie der Katalog beweist. Die Kunst, die in der äußerst vitalen Metropole Istanbul entsteht, ist modern, radikal, schrill und provokativ und von großer Kraft. Es geht um die islamische Gesellschaft geht, um Tabus und Unterdrückung, um überkommene autoritäre Strukturen und den Widerstand dagegen.
Und um die Selbstfindung einer in einem allumfassenden Reformprozess befindlichen Gesellschaft. „Was ist ein Türke?“, fragt Ipek Duben und stellt Familienfotos zu bekannten Klischees: „Türken können lang still sitzen, das wirkt auf uns nicht menschlich, sondern animalisch.“ Außerdem: „Sie haben jede Menge Frauen und essen Kinder.“
Die 80 Werke markieren die wichtigsten Stationen der türkischen Moderne. Schon die frühesten Bilder, aus der Zeit nach der Staatsgründung 1923, machen den großen Einfluss deutlich, den Westeuropa immer hatte. Die Krisen der Türkei, die verschiedenen Militärputsche, haben die Kunst immer befördert und die Künstler ins Exil gezwungen.
Wer zweifelte, dass Istanbul europäische Kulturhauptstadt sein muss, hier ist der Beweis.
Bewertung: *****
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