Aktueller könnte dieser Roman für deutsche Leser nichts sein, angesichts der täglichen Nachrichten über Missbrauch durch Funktionäre in der katholischen Kirche. Der Ire Sebastian Barry enthüllt ein düsteres Kapitel aus der Geschichte seines Heimatlands, das Schicksal der „verlorenen Frauen“.
Die Frauenfeindlichkeit des Islam ist nicht nur Konfliktlinie im politischen Diskurs, sondern auch Faktor der Abgrenzung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Dabei wird vergessen, dass auch das Christentum, oder präzise der Katholizismus, bis heute keine Gleichberechtigung kennt.
Da muss man nicht zurückgehen bis zur Hexenverfolgung. In Irland, wo Scheidung erst seit 1995 per Volksabstimmung erlaubt und zwei Referenden zur Abtreibung scheiterten (zuletzt 2002), konnten noch vor wenigen Jahrzehnten Männer ihre Ehefrauen einfach entsorgen und die Ehe aus fadenscheinigen Gründen annulieren lassen.
So, wie es Roseanne McNulty geschah, die 60 Jahre in der Psychiatrie verbringt und nun als 100-Jährige, als die Anstalt vor der Schließung steht, endlich ihre Lebensgeschichte erzählt. Die Diagnose lautete „perniziöse, chronische Nymphomanie“, was immer das bedeuten mag.
Tatsächlich wurde die kleinbürgerlich aufgewachsene, protestantische Frau auf Druck der Familie ihres Mannes und mit Hilfe von Father Gaunt aus der Gesellschaft ausgeschlossen und von ihrem Kind getrennt. „Geisteskrankheiten treiben viele Blüten“, sagt der katholische Priester.
Erst als alte Frau, als sie einen Stapel leerer Blätter findet, beginnt sie ihre Geschichte aufzuschreiben – und weckt die Neugierde ihres Psychiaters Dr. Grene. Auch er ist erschüttert vom bevorstehenden Abriss der Anstalt, deren Bewohner ihm mehr bedeuten als die eigene Frau.
Auch so eine tragische Geschichte, eine die beim Lesen traurig macht. Er vertieft sich in die Geschichte der alten Frau und macht am Ende eine erstaunliche Entdeckung. Aber die wird hier nicht verraten.
Sebastian Barry, hoch dekorierter Romanautor und Verfasser von Theaterstücken, besticht durch eine bildreiche, plastische Sprache, die die Grenze zum Kitsch nie überschreitet. Oder, wie es an einer Stelle heißt, Geschichte ist „ein fabelhaftes Gewebe von Annahmen und Mutmaßungen, das dem Ansturm der vernichtenden Wahrheit als Banner entgegengehalten wird“.
Absolut lesenswert. Und wer sich mit irischer Geschichte nicht auskennt, dem hilft eine Zeittafel im Anhang.
Bewertung: *****
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