Der „Gastland“-Status auf der Frankfurter Buchmesse brachte der türkischen Literatur seit vorigem Jahr einen unerhörten Aufschwung in Deutschland. Zu den vielen Entdeckungen gehört auch diese autobiografische Familiengeschichte aus der Zeit des Umbruchs – sozusagen ein bürgerlicher Kontrapunkt zu Halide Edip Adivars „Schattenspieler„.
„Ich kam am 31. Oktober 1908 in Istanbul zur Welt, als das erstgeborene Kind meiner Eltern. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war meine Mutter fünfzehn, mein Vater zwanzig. Das Domizil unserer Familie, ein Haus mit Blick auf das Marmarameer, stand hinter der Blauen Moschee, an der Ecke zu einer kleinen Sackgasse, vom Meer nur durch eine niedrige Steinmauer getrennt.“
Die ersten Jahre Irfans sind paradiesisch: Eine reiche Familie in einer Villa mit großem Garten, doch dann treibt der Erste Weltkrieg die Familie in den Ruin. Der Vater stirbt, das Haus brennt ab, die Familie verarmt völlig. Der junge Irfan muss sogar Gras essen, um nicht zu verhungern.
Während das Osmanische Reich untergeht und Atatürk einen neuen Staat gründet, kämpfen die Orgas ums reine Überleben – und verlieren doch nie Lebensmut und verleugnen nicht ihre geistigen Wurzeln.
Erst die neue Republik beschert Irfan, seinem Bruder und der jüngsten Schwester eine neue Zukunft. Die beiden Jungs gehen auf eine Militärschule und machen Karriere in der Armee. Muazzez heiratet wohlhabend – und alle drei kümmern sich um die psychisch kranke Mutter.
Als diese 1942 stirbt, geht Irfan nach London, wo er sieben Jahre später seine Familiengeschichte veröffentlicht – eine Liebeserklärung an ein Istanbul, das man heute vielleicht noch erkennen mag in den alten dorfähnlichen Quartieren auf der asiatischen Seite:
„Den gesamten Bosporus entlang bis zum Schwaren Meer erstrecken sich die hohen Bäume und die alten Holzhäuser. Miniaturmoscheen säumten die Uferlinie, und dort, am Ende der Reihe von strahlenden Palästen, lag Istanbul – mein Istanbul, das mir so sehr ans Herz gewachsen ist.“
1970 starb Orga in London. Ein Nachwort des Sohnes schließt nicht nur die Lücke ab 1950, sie offenbart auch, warum Orga aus der Türkei emigrieren musste (unerlaubte Beziehung zu einer Ausländerin) und wie sehr er bis zu seinem frühen Tod die Heimat vermisst hatte.
Seltsam, dass es 60 Jahre dauerte, bis dieses bemerkenswerte Buch, das Zeugnis gibt von einem gesellschaftlichen Umbruch, ins Deutsche übersetzt wurde. Es liest sich spannend wie ein Roman, obwohl es doch eine Tatsachengeschichte ist. Grandios!
Bewertung: *****
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