Gerade war wieder Wahlkampf, und die Union sammelte Wählerstimmen damit, gegen einen EU-Beitritt der Türkei einzutreten. Zu Recht, oder werden hier wieder jahrhundertealte anti-osmanische Vorurteile ausgespielt? Der Brite Perry Andersen gibt Antworten.
Der britische Historiker, Jahrgang 1938, der in Kalifornien lehrt, gilt als einer der scharfzüngigsten politischen Autoren seines Landes. In seiner kenntnisreichen, tiefschürfenden Analyse zeigt er auf, dass „die Türken längt in Europa sind, ihr Staat noch nicht“.
Die drei im vorigen Jahr in der Zeitschrift „London Review of Books“ erschienen Essays liefern einen hervorragenden Einblick in die türkische Gegenwart und Geschichte. Sie offenbaren den heftigen und von außen völlig widersprüchlichen Kampf der politischen Kräfte.
Ein Widerstreit von Kemalisten und Reformern, von europäischen Türken und der erstarkenden Mittelschicht aus dem noch immer unterentwickelten Anatolien, der unlösbar scheinende Zypern-Konflikt und eine unglaubliche Unfähigkeit, Minderheiten wie Kurden und Aleviten endlich anzuerkennen.
Die Frage, ob ein Beitritt der Türkei zur EU sinnvoll ist oder nicht, beantwortet Anderson nicht. Gleichwohl zieht er die Ablehnungsgründe konservativer Kräfte im „alten Euopa“ ins Lächerliche. Denn die viel beschworene Wertegemeinschaft sei dieses Konglomerat aus 27 Staaten schon lange nicht mehr.
Dabei, so Andersons Analyse, sind die christdemokratischen Kräfte in Europa und der neue anatolische Mittelstand in ihren restaurativen Vorstellungen gar nicht so weit auseinander. Daraus begründe sich auch die Popularität einer religiös verwurzelten Partei wie Erdogans AKP, die so etwas wie eine Bürgergesellschaft in der Türkei zu erschaffen versucht.
Bis heute ist der türkische Staat autoritär geprägt, werden in Ostanatolien feudale Stammesstrukturen gelebt, ist Demokratie mal opportun, mal nicht, werden Frauen unterdrückt und Minderheiten verfolgt. Dabei war Atatürk für seine Zeit durchaus revolutionär. er führte ein Frauenwahlrecht an, als in Europa noch niemand daran dachte.
Ein anschauliches Buch, gut zu lesen, drei Aufsätze, die es wert sind, als Buch publiziert zu werden. Und dass Anderson auch die Heuchelei der angeblichen Türkeifreunde rühmt, die sich zu Anwälten der Opfer aller Zeiten aufspielen, tut seiner Glaubwürdigkeit gut.
Bewertung: ****