Fred Licht „Villa Ginestra“, 450 Seiten, 32 €, Eichborn, ISBN: 978-3821845968;
Hach, wie liebe ich die Bücher aus Eichborns „Anderer Bibliothek“. Wie wunderbar sich dieses Leinen anfüllt und dieses schwere, glatte Papier. Aber, halt! Es geht hier ja um Inhalte. Und da offenbart uns der amerikanische Kunsthistoriker Fred Licht einen erzählerisch wunderbaren Einblick in eine illustre Gesellschaft am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.
Das Buch ist aktueller als es die Verleger sich wohl hätten vorstellen können. In einer Zeit, als die ganze Welt von der Bankenkrise erschüttert wird, erleben wir das Treiben einer reichen Genfer Bankiersfamilie. Nicht Gier treibt sie, wie ihre soeben gescheiterten Epigonen, sondern nachhaltiges Wirtschaften hat sie im Laufe von Jahrhundetren reich gemacht.
Etwas aus der Art geschlagen ist die schöne Renée Girard, eine Exzentrikerin, die in der florentinischen Villa Ginestra eine Art Kunstkolonie aufgebaut hat. Harry, ihr 14-jähriger Neffe, wird zu ihr geschickt. Er soll dafür sorgen, dass Renée ihr Vermögen an das Bankhaus der Familie zurückgibt. Mäzenatentum ist der intriganten Verwandtschaft ein Gräuel. Aber der Plan geht nicht auf: Harry wechselt die Seiten.
Während die Welt rundherum durch Faschismus und Krieg in die Brüche geht, bleibt das Idyll in der Villa Ginestra mehr oder weniger erhalten. Dank des Geldes wird die Villa zum Fluchtpunkt. Harry allerdings muss zurück nach Amerika und kommt als Soldat nach Europa. Die Villa Ginestra bleibt für ihn ein Traum.
Die Geschichte der italienischen Künstlerkolonie erzählt Harry als alter Mann, in der Rückschau auf die reiche Lady, die seine Tante war. Aus Briefen entdeckt er immer neue Facetten ihrer schillernden Persönlichkeit und entfaltet dabei das Sittengemälde einer untergegangenen, jüdisch geprägten und dekadenten Gesellschaftsschicht.
Der 1928 in Berlin geborene, jüdischstämmige Fred Licht hat viele eigene Erfahrungen in seine facettenreichen Milieuschilderungen eingearbeitet. Als Kind musste er seine Heimat verlassen und wurde zum Weltbürger. Die Familie emigrierte über Amsterdam, Paris und Italien nach New York. 1947 studierte Licht in Basel Kunstgeschichte, seit 1959 lebt und arbeitet er in Venedig, als Kurator der Peggy-Guggenheim-Sammlung.
Bewertung: **** (für die Ausstattung: *****)
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