Wenn es ein Indiz ist für gute türkische Literatur, von den Behörden wegen des Paragrafen 301 angeklagt zu werden, dann ist die 36-jährige Elif Shafak eine hervorragende Autorin. Die Diplomatinnen-Tochter, in Straßburg geboren, in Madrid und Amman aufgewachsen, hat mit dem Bonbonpalast der Stadt Istanbul ein Denkmal gesetzt.
Der Bonbonpalast ist ein Istanbuler Wohnhaus. Erzählt wird, mit großer literarischer Kraft die schicksalsträchtige Geschichte dieses Mietshaus, das einst russische Emigranten auf zwei Friedhöfen erbaut hatten. Längst sind die zehn Wohnungen verfallen und stinkt es in dem einstmaligen Palast mehr nach Müll als nach orientalischen Wohlgerüchten – eine Parabel auf die Entwicklung Istanbuls seit dem Osmanischen Reich.
In dem Haus wohnen allerlei skurrile und liebenswürdige Menschen: Im Keller ein junger Medizinstudent, daneben ein Philosophie-Professor mit Alkoholproblem, weiter eine junge Schönheit genannt Blaue Mätresse und Nadia, die russische Emigrantin und Wissenschaftlerin. Zu dieser Gesellschaft gehört auch das alte Tantchen Madam, die alles weiß, der religiöse Hausmeister Hadschi Hadschi und die frisierenden Zwillinge Celal und Cemal.
In ihrer Erzählung, die vielfach an ”Tausendundeine Nacht“ erinnert, wird der Alltag im anonymen Moloch Istanbul geschildert. Hinter jeder der Türen finden sich Menschen, die sich verloren haben, die Trennendes und Gemeinsames in ihren Emigrantengeschichten haben – ein Plädoyer für Multikultur und gegen den herrschenden Chauvinismus der türkischen Gesellschaft.
„Auch Istanbul gab es in ihrem Denken nicht, sondern zig, Hunderte, Tausende und Millionen von Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften, die jede ihre eigenen Wege gingen (…) Nur weil keine Gruppe stärker war als die andere, blieb die Stadt am Leben. (…) So war Istanbul nur ein Rest, der von einem größeren Ganzen übrig geblieben war (…) – ein zerstreuter, zerteilter, mangelhafter und unvollständiger Rest“, heißt es an einer Stelle.
Getragen wird dieses reichhaltige Buch von Shafaks außerordentlicher Fabulierkunst. Die Hausbewohner erleben den ganz realen Alltag Istanbuls. Es geht um Liebe, Tod und Scheidung, um Sucht und Wut und das Trachten nach einem glücklichen Leben. Das Zehn-Parteien-Haus steht für eine Millionenstadt.
Ein Roman, der für die Türkei von heute steht.
Bewertung: *****
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