„Wichtig ist, dass man Träume hat“, hat Mario Levi im Gespräch mit meiner Freundin und Kollegin Canan Topcu einmal gesagt. Nur wer träumt, kann auch Märchen schreiben oder eine solch innige Liebeserklärung, wie sie der jüdische Istanbuler seiner Geburtsstadt widmete.
Im Ausland gilt die Türkei oft als eindimensionale Gesellschaft, in der das Türkentum hochgehalten und Minderheiten unterdrückt werden. Da ist sicher nicht falsch, aber unter der Oberfläche gedeihen gerade im kulturellen Schmelztiegel Istanbul viele andere Minderheiten-Communities, wenngleich seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vor fast 90 Jahren vieles verloren ging.
Mario Levis Leute, die sephardischen Juden, blicken in der heutigen Türkei auf eine über 500-jährige Tradition zurück. Damals wurden die arabischstämmigen Juden von den christlichen, spanischen Rückeroberern von der Iberischen Halbinsel vertrieben. Viele siedelten sich in Istanbul an. Um 1900 herum lebten dort noch rund 100.000 Sepharidim, heute schätzt man ihre Zahl auf ein Viertel davon.
Sie haben Istanbul mitgeprägt , und sie waren immer auch ein Eckpfeiler europäischer Kultur am Bosporus. Als Minderheit haben sie es heute schwer, ebenso wie Armenier, Griechen, Christen und andere Gruppen.Selbst ihre Sprache ist inzwischen so gut wie ausgestorben. Levi gehört zu den letzten, die noch Ladino, die Sprache seiner Volksgruppe beherrschen.
„Die Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend sind unvergessen. wenn Levi davon spricht, wie die Lehrerin den jüdischen Jungen beschimpft hat. Dann ist zu hören, dass die Verletzungen tief sitzen. Nicht weil er vorwurfsvoll klingt, sondern sich in seine sonst so sanfte Stimme unbemerkt Verzweiflung mischt“, schreibt Canan Topcu nach einem Gespräch mit dem 51-Jährigen.
Levi lebt in einer paradoxen Situation. Er gehört zu den vergleichsweise wenigen geboren Istanbulern in dieser zunehmend von anatolischen Einwanderern geprägten Metropole und ist doch als Jude immer Außenseiter, selbst wenn er sich dazu bekennt, zuerst einmal Türke zu sein. Bis die Türkei so weit ist, die Vorteile seiner Multikulti-Gesellschaft wirklich zu erkennen, werde es noch lange dauern, fürchtet er.
Sein 800 Seiten Wälzer atmet das, was Orhan Pamuk „Hüzün“ nennt, Melancholie. Von skurrilen Menschen erzählt er in seinem Rückblick auf die Tage seiner Kindheit. 47 Leute sind es, Vertreter aller möglichen Gruppen. „Bringschuld an seine Vorfahren“ nannte er es einst über das Leben der Minderheiten in Istanbul zu erzählen, damals als die Stadt noch einem Märchen glich.
Sie alle, gleich wo sie herstammen, leben in der Stadt wie in einem Wartesaal. Gemeinsam ist ihnen in ihrem Exil die Erinnerung an Verlust und die Enttäuschung. Einen Ausweg gibt es nicht. Istanbul bleibt immer ihre Stadt.
Levi erzählt seine Geschichten sehr breit, wie ein träge fließender, perlender Fluss. Hintergründiger Humor kommt zum Ausdruck. Es ist ein Buch, das irgendwie nicht mehr in unsere Zeit passt (wie auch die Menschen von denen, es erzählt). Und gerade das macht den Wert dieses Romans eines großen Erzählers aus.
Bewertung: *****
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