Corry Guttstadt „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“, 520 Seiten, 18 €, Assoziation A, ISBN: 978-3935936491;
Es ist wieder so ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wie er für die Türkei so typisch zu sein scheint: Die offizielle Geschichtsschreibung weist das muslimische Land als Zuflucht für verfolgte Juden aus. In der Realität aber waren Juden auch hier eine Minderheit mit geringeren Rechten, die vielfach nicht willkommen war. In ihrem Standardwerk entlarvt die Historikerin Corry Guttstadt so manche Klitterung.
Die studierte Hamburger Turkologin Guttstadt hat ein beeindruckendes Buch vorgelegt. Sie wendet sich dabei nicht nur an die Wissenschaft, sondern schreibt leicht verständlich und einleuchtend für uns normale Leser. Schwerpunkt ist – wie schon der Titel belegt – die Politik der Türkei während der NS-Zeit.
Das Osmanische Reich und die Türkei pflegten unterschiedliche Kulturen im Umgang mit Minderheiten. Während das Osmanische Reich schon aufgrund seiner enormen Ausdehnung ein Vielvölkerstaat war, ist die Vorherrschaft der Türken von Kemal Atatürk in der gleichnamigen Republik zur Staatsdoktrin erhoben worden. Und so ist zwar die Gleichheit der Ethnien und Religionen in der Verfassung festgeschrieben, die Realität aber sieht anders aus – siehe Kurden, Armenier und Christen.
Tatsache ist, dass viele Juden in der Türkei Zuflucht fanden: Vom 15. und 16. Jahrhundert, als die Sephariden nach dem Sieg über die arabischen Mauren von der Iberischen Halbinsel vertrieben wurden, bis zum Dritten Reich, als aber 1933 viele bedeutende jüdische Wissenschaftler und Politiker Aufnahme fanden und der Türkei auf dem Weg in die Moderne wertvolle Hilfe leisteten.
Das ist die eine, die offizielle Seite: Auf der anderen Seite waren die Juden schon im Mittelalter Bürger zweiter Klasse (wie im westlichen Europa), sie zahlten Zusatzsteuern, und sie waren für jeden zu erkennen, weil sie gelbe Turbane tragen mussten.
Und auch nach der Republikgründung 1923 verschonte die Türkisierung auch die im Land lebenden Juden nicht. 350.000 Juden lebten zu Beginn der 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich. Nach Gründung der Türkei wurden viele von ihnen diskriminiert, litten unter Berufsverboten und dem Entzug der Staatsbürgerschaft. In der Westtürkei fanden 1934 sogar Progrome gegen jüdsiche Mitbürger statt, wie Guttstadt nachweist.
Das führte dazu, dass viele jüdsiche Familien in die Nachbarländer auswanderten, wo sie wiederum in die Fänge der NS-Eroberer fielen und umkamen. Die Flucht in die Türkei wurde wiederum durch rigide Einwanderungs-Richtlinien verhindert. Tausende Juden wurden zudem ausgewiesen. Lediglich das Engagement einer Reihe von türkischen Diplomaten und der Druck jüdischer Organisationen retteten viele Juden in dem Land.
Glückwunsch zu dieser Arbeit. Sie schließt eine Lücke in der europäischen Holocaust-Forschung. Was wohl die türkische Geschichtswissenschaft dazu sagen wird?
Bewertung: *****
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