Sebnem Isigüzel „Am Rand“, 416 Seiten, 19,90 €, Berlinverlag, ISBN: 978-3827008053;
„Müllberg“, so heißt der türkische Titel dieses Romans direkt übersetzt. Und darum geht’s: Um die geheimnisvolle Geschichte einer jungen Frau, die auf einem Müllberg in Istanbul endet. Wobei Istanbul hier vor allem eine Kulisse bietet.
Die Autorin Sebnem Isigüzel ist zurzeit in Frankfurt – als Ehrengast der Buchmesse. Und die 35-jährige Schriftstellerin und Journalistin fühlt sich in der Mainmetropole weniger zuhause als Leyla auf der Müllkippe im Herzen der Stadt Istanbul. Auf der Flucht vor sich selbst findet die junge Frau in der Leere einen Halt.
Ein zutiefst emotionales Buch, in das sich Isigüzel immer wieder als empathische Erzählerin einmischt, ein altmodisches Stilmittel, aber ein gutes. Unglaublich menschenverachtend die Schilderung der Vergewaltigung, die Leyla erlebt. Einstmals spielte sie gegen Kasparow Schach und war in Russland als großes Talent gefeiert.
Das Elementarste ging ihr in der Kindheit ab, die elterliche Liebe. Als die Eltern – der Vater war Diplomat – in Russland bei einem (provozierten?) Verkehrsunfall sterben, verliert Leyla auch noch den Rest. Sie wird ausgewiesen, von Onkel und Tante nicht willkommen geheißen, landet auf der Straße, lernt den Sohn eines einflussreichen Politikers kennen, heiratet den alkoholkranken jungen Mann und scheitert – wie so oft in ihrem Leben. Und so wird sie zur „Königin der Müllhalde“, bis sie einen schwer verletzten Unbekannten findet …
„Am Rand“ ist schonungslos und deutlich in der Sprache. Unglaublich wie lakonisch die Vergewaltigung und fast Ermordung der jungen Frau geschildert wird. So brutal diese Szene, so stark erzählt, wie sie ein Mann wohl niemals würde schildern können.
Und dann gibt es noch die Parallelgeschichte, von Yildiz, der Musikprofessorin. Sie schreibt an der Biografie eines deutschtürkischen Dirigenten und leidet – ebenfalls – unter der lieblosen Mutter, die ihr das Leben zur Hölle macht. Die ihr zugefügte psychische Gewalt ist noch brutaler als die, die Leyla ertragen muss.
„Faschismus und Machtgier zerstörten die Werte der Türkei“, sagte Isigüzel in einem Interview. Der Müllberg gilt ihr als Symbol für eine Gesellschaft, die sich vom Schmutz ihrer Geschichte befreit. Leider ist sich die Autorin ihrer Sache, die Geschichte ihres Landes zu erzählen, offenbar nicht so sicher. Warum sonst sollte sie noch einen – fiktiven oder nicht – Interviewteil beifügen, in dem sie die problematischen Teile ihrer Geschichte einer Prüfung unterziehen lässt.
Gleichwohl fasziniert die präzise, prägnante Sprache, die man einer 35-jährigen Mutter eines kleinen Mädchens eigentlich nicht zutrauen würde. Schon als 20-Jährige hatte die in der Westtürkei aufgewachsene Istanbulerin mit Tabubrüchen gearbeitet und war prompt ein Opfer der Zensur geworden.
Wie so oft, zeigt sie auch in diesem Roman das türkische Schriftsteller weit europäischer sind als die meisten Landesleute. Sie sind in ihrer Offenheit und Schonungslosigkeit ein Motor für die Öffnung der Gesellschaft.
„Am Rand“ ist ein wichtiger Beitrag.
Bewertung: ****
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