Gerade drei Tage ist’s her: Da meldeten die Nachrichtenagenturen wieder einmal, dass der Empfang von „You Tube“ in der Türkei gesperrt wurde, weil irgendwelche Filmchen das Vermächtnis von Staatsgründer Atatürks beleidigten. Lächerlich! Aber wer war dieser Mustafa Kemal, der sich selbst den Namen „Vater der Türken“ gab und dessen Bild bis heute in jeder Amtsstube hängt? Klaus Kreiser gibt Antworten, ohne zu klittern.
„In kurzer Zeit haben wir Großes erreicht. Das Größte und Grundlegendste jedoch ist die Republik Türkei. Aber wir müssen noch Vieles und Großes in Angriff nehmen. Wir werden unser Land auf ein Niveau bringen, das dem moderner Zivilisationen entspricht“, so sprach Mustafa Kemal 1933 anlässlich des zehnten Jahrestags der Republikgründung.
Er befand sich auf dem Höhepunkt der Macht: Er hatte die Reste des Osmanischen Reichs nebst Kalifat beseitigt, nach französischem Vorbild einen laizistischen Staat geschaffen und die Scharia abgeschafft. Er hatte eine Grundschulpflicht und die lateinische Schrift eingeführt. Ein Jahr danach bekamen auch die Frauen das Wahlrecht.
Das war die eine Seite. Die andere waren Frauen und Alkohol (er starb 1938 an Leberzirrhose) und ein bis heute andauernder Personenkult. Er war eigensinnig und cholerisch. Biograf Halil Gülbeyaz nannte ihn einen „Demokraten, der am liebsten allein regierte“.
Klaus Kreiser (63), emeritrierter Professor an der Uni Bamberg, ist Deutschlands bekanntester Türkei-Experte. Mit seiner Atatürk-Biografie hat Kreiser erneut ein Standardwerk vorgelegt, eines das dessen überragende Wirkung bis in die Gegenwart schlüssig erklärt.
Mustafa Kemal hat es immer auch verstanden, sein Leben im Dunkeln, im Geheimnisvollen, zu halten. Schon der Tag seiner Geburt 1881 im griechischen Thessaloniki als Sohn eines Zollbeamten ist nicht genau bekannt. Kemal wurde Offizier, äußerst ehrgeizig, fortschrittsgläubig und visionär. Schon früh wollte er mehr sein als nur ein Soldat.
Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg schlug dann Kemals große Stunde. Gegen viele Widerstände rief er 1923 die Republik Türkei aus und gab ihr ein westeuropäisches, fortschrittliches Gepräge – rechtlich wie gesellschaftlich.
Mit den Folgen kämpft die Türkei bis heute: Die fehlende Normalität im Umgang mit dem Islam führt zu dem übersteigerten Kopftuchstreit, der türkische Nationalismus, der der kurdischen Minderheit kulturelle und sprachliche Autonomie verweigert oder auch das starke Wohlstandsgefälle zwischen Istanbul mit der Mittelmeerküste und dem unterentwickelten Ostanatolien.
Ein wichtiges, detailreiches Buch, das Zusammenhänge sehr gut vermittelt.
Bewertung: *****
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