Zülfü Livaneli ist einer der bedeutendsten türkischen Intellektuellen, und seine Lebensgeschichte ähnelt der von so vielen: In den 1970er Jahren musste der Komponist, Sänger, Filmemacher und Schriftsteller die Türkei wegen seiner politischen Ansichten verlassen. Heute gehört er zu jenen, die die Erneuerung der so widersprüchlichen Gesellschaft vorantreiben wollen und die Integration nach Europa.
„Glückseligkeit“ behandelt d a s Thema der heutigen Türkei, den Unterschied zwischen Provinz und Großstadt, zwischen Ost und West, Anatolien und Istanbul, Mittelalter und Moderne. Hier die archaische Gesellschaft, in der das 15-jährige Vergewaltigungsopfer Meryem vom eigenen Cousin, einem PKK-Kämpfer, der Schande wegen ermordet werden soll. Dort der Istanbuler Professor, reich, gelangweilt, zivilisationsmüde auf der Suche nach neuen Werten.
Ihre Begegnung wird für alle drei zu einer Zäsur. Die einen erkennen, dass ihr Dorf in Anatolien nicht die ganze Welt bedeutet, und der Herr Professor muss erkennen, dass nicht alles negativ ist, nur weil es aus dem Osten kommt. Jeder der drei steht für einen (nicht nur türkischen) Irrweg: Religiöser Fundamentalismus (Meryem), militanter Nationalismus (PKK-Kämpfer Celem) und pseudoliberale Fortschrittshörigkeit (der Professor).
Livanelis Botschaft ist eine politischere als die von Oya Baydar, die in ihren „Verlorenen Worten“ ein ganz ähnliches Thema, ganz ähnlich konstruiert behandelt. Während Poesie, Mystik und auch ein Verständnis für die überkommenen Traditionen bei ihr im Vordergrund steht, ist Zülfü Livaneli überzeugter Kemalist und Modernisierer.
Um seine Botschaft zu überbringen, packt Livaneli bisweilen die Keule aus, verfällt in Klischees, weil er einfach alle Probleme in den Roman hineinpackt. Fast ist „Glückseligkeit“ ein modernes Märchen, was der schriftstellerischen Qualität keinen Abbruch tut.
Der türkisch-griechische Versöhner und UNESCO-Botschafter, der seit 1984 nach seiner Rückkehr in die Türkei wegen seines Liedes „Merhaba“ (Willkommen) Heldenstatus genießt, widerspiegelt selbst viele der Gegensätze. Vor sechs Jahren ließ er sich für die CHP, die alte von Atatürk gegründete Regierungspartei, ins Parlament wählen, verließ die Kemalisten aber wieder als ihm klar wurde, dass die Partei nur Macht erhalten will und dafür den Fortschritt mit allen Mitteln blockiert.
Livaneli ist in ganz Europa ein begehrter Gesprächspartner. Zur Buchmesse kommt er nach Deutschland, zuletzt war er dort im Juni Gast der Biennale in Bonn und diskutierte in einem sehr spannenden Gespräch mit dem designierten Grünen-Chef Cem Ozdemir über die Türkei und Europa.
Wieder ein Beitrag zum besseren Verständnis dieses faszinierenden Landes.
Bewertung: *****
Zülfü Livaneli geht auf Lesereise:
7. Oktober, 20 Uhr, Literaturhaus München;
8. Oktober, 20 Uhr, Literaturhaus Köln;
10. Oktober, 19.30 Uhr, Alte Feuerwache Duisburg;
13. Oktober, 19 UIhr, Literaturhaus Basel;
14. Oktober, 19 Uhr, Hauptbücherei Wien;
18. Oktober, nachmittags Lesung, 19.30 Uhr Konzert, Frankfurter Buchmesse;
20. Oktober, 19.30 Uhr, Literaturbüro Hannover;
21. Oktober, 19 Uhr, Haus der Kulturen der Welt Berlin (mit Musik);
22. Oktober, 20 Uhr, Literaturhaus Salzburg (mit Musik);
23. Oktober, 20 Uhr, Literaturhaus Stuttgart (mit Musik);
24. Oktober, 18 Uhr, Kommunales Kino Stuttgart (Eröffnung der türkischen Filmtage)
und der Höhepunkt:
9. Oktober, 20 Uhr, Philharmonie Köln, Konzert mit Zülfü Livaneli, Mikis Theodorakis und anderen.
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