Oya Baydar „Verlorene Worte“, 464 Seiten, 22,90 €, Claassen, ISBN: 978-3546004350;

Große Literatur! Wenn Orhan Pamuk dem Türkischen den Weg nach Europa geebnet hat, dann wurde dieser nun von Oya Baydar gepflastert. Thematisch und perspektivisch gibt es viele Parallelen zwischen Pamuks Nobelpreis-Roman „Schnee“ und den „Verlorenen Worten“.  Doch Oya Baydar konstruiert weniger, dafür steckt mehr Emotion und sprachliche Opulenz in diesem Werk.

In gut einem Monat startet die Frankfurter Buchmesse. Gastland ist die Türkei, und man muss kein Prophet sein, dass Baydars „Verlorene Worte“ zu den meist gelobten, meist diskutierten Werken gehören wird. Der Inhalt ist jedenfalls brisant, und es zeugt vom – in Europa nicht immer wahrgenommenen – demokratischen Wandel des Landes, das dieses Buch im Heimatland offenbar keine juristischen Folgen hatte.

In drei sich wenig überschneidenden Geschichten entfaltet Baydar ein Kaleidoskop der modernen Türkei. Da ist Ömer Eren, ein alternder Schriftsteller, einst links und politisch, nun populär und erfolgreich. Aber die Arbeit hat mit der Tiefe auch ihren Sinn verloren, ihn plagt eine Art innere Schreibblockade.

Nach einem Termin in Ankara begegnet ihm am Busbahnhof ein junges Pärchen, zwei Kurden auf der Flucht – vor den eigenen Leuten und dem Gesetz. Bei einem ungezielten Bombenanschlag wird die junge Frau schwer verletzt. Ömer-Bey bietet den Orientierungslosen eine Zuflucht und begibt sich auf eine Reise zu ihren (und seinen) Ursprüngen im „östlichen Osten“, nach Ost-Anatolien.

Und dann ist da Elif Eren, Ömers ebenso erfolgreiche Frau, eine Wissenschaftlerin, unterwegs von Fachkongress zu Fachkongress durch Europa. Auch sie hat etwas verloren, ihren Sohn Deniz, der vor der erdrückenden Dominanz seiner Eltern geflohen ist und mit Frau und Kind glücklich in einem norwegischen Dorf lebte. Glücklich, bis auch ihn ein schwerer Schicksalsschlag trifft.

„Verlorene Worte“ ist eine (Verständnis-)Brücke zwischen Orient und Okzident, es ist aber auch Zeugnis der tiefen Sehnsucht der Türken nach Europa. Baydar sieht den Kurdenkonflikt als das drängendste Problem der modernen Türkei an, und sie erzählt eindrucksvoll, wie sich beide Konfliktparteien permanent gegenseitig anfeuern – eine sinnvolle, entmenschlichte Spirale der Gewalt, für die es zumindest in der gegenwärtigen politischen Lage keine Lösung zu geben scheint, weil auf beiden Seiten der Wille fehlt.

„Verlorene Worte“ ist aber auch ein Roman über das Scheitern der alten linken Intelligenzia, der türkischen 68er. Beim Militärputsch 1980 wurden sie aus dem Land gejagt und gingen nach Deutschland oder Skandinavien. Zwölf Jahre später kehrten sie zurück, mit dem Willen das Land endgültig in die Demokratie zu führen.

Und heute? Entweder sind sie in der Bedeutungslosigkeit gescheitert und verharren als Mahner in der Wüste, überrollt vom kapitalistischen Umbruch der Türkei. Oder sie gefallen sich auf nationalistisch-patriachalischen Abwegen in der kemalistischen ehemaligen Mehrheitspartei CHP. Motor des türkischen Fortschritts sind sie jedenfalls nicht mehr.

Der Lebensweg von Oya Baydar – Jahrgang 1940, verheiratet mit dem außerordentlich liebenswerten Journalisten Aydin Engin, wohnhaft in Istanbul, direkt am Bosporus- weist viele Parallelen auf zu jenen der Helden ihres Buchs. Man spürt die tiefe Zerrissenheit der Türkei, hier Istanbul und dort der Osten, und sie thematisiert auch die Überheblichkeit der Großstädter und der dominierenden Militärs.

Den Vorwurf von Kritikerseite, ihre blumige Sprache sei Ausdruck eben jener Orient-Sentimentalität, teile ich nicht. So ist die Türkei im Ostenwohl: muslimisch, geprägt von orientalischen Traditionen, vielfältig, mystisch – einfach anders.

Ein wirklich eindrucksvoller Roman.

Bewertung: *****

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Lauter Lesenswertes

Verloren in der sinnlosen Spirale der Gewalt

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