Ob nun der Kopftuchstreit oder der um den Paragrafen 301, der die „Verunglimpfung des Türkentums“ unter Strafe stellt, das Bild der Türkei in Deutschland ist das eines „kranken Mannes“. Dabei kann man die heftigen Debatten der türkischen Gesellschaft auch anders verstehen: Als Dynamik einer sich emanzipierenden Gesellschaft. Sibylle Thelen hat viele Belege für diese These.
Die Journalistin (46), Leitende Redakteurin bei der Stuttgarter Zeitung, kennt die Türkei sehr gut. Sie hat unter anderem Turkologie studiert und längere Zeit in der Türkei gelebt. Thema ihres jüngsten Buches sind die Künstler – die, so der Untertitel, „Gesichter der neuen Türkei“.
Ob Literaturpreisträger Orhan Pamuk, der sich in seiner Heimat immer wieder heftiger Anfeindungen erwehren muss, oder Fethiye Cetin, die erst ein Tabu brach, indem sie die Geschichte ihrer armenischen Großmutter beschrieb und den Genozid von 1915 und nun die Angehörigen des vor einem Jahr ermordeten Journalisten Hrant Dink als Anwältin vertritt – die Kulturschaffenden sind der Treibstoff dieser rasant sich entwickelnden Gesellschaft.
Dazu gehört für Thelen auch Aydin Dogan, einer der reichsten Männer der Türkei und einer der einflussreichsten, weil ihm das größte Medienimperium gehört. Das Flaggschiff ist auch in Deutschland bekannt – und berüchtigt: Hürriyet. Thelen hat viel Verständnis für das Land am Bosperus. Selbst für das nicht funktionierende Grundrecht auf Pressefreiheit findet die Journalistin eine plausible Erklärung.
Der deutschtürkische Autor Feridun Zaimoglu („Liebesbrand“) beschreibt in seinem Vorwort das einseitige Bild der Türkei im Westen – den „Triumphalismus ob einer unterlegenen Gesellschaft“. Dass sich die Menschen gerade jetzt auf alte (islamische) Werte rückbesinnen, deutet er nicht als „schleichende Islamisierung“, sondern als Bedürfnis nach innerer Sicherheit.
Istanbul ist das intellektuelle Zentrum dieses umfassenden Wandels, und es ist die „Stadt unter Strom“. Die Künstler – und nicht nur die zehn, die Thelen porträtiert – treten den Dynamo: Musiker wie Mercan Dede, Schauspieler wie Polat Alemdar, Fernsehjournalistinnen wie die Kopftuch tragende Ayse Böhürler oder Schriftstellerinnen wie Elif Shafak.
Sibylle Thelen hat ein kenntnisreiches, gut recherchiertes Buch geschrieben. Und sie hat das getan, was gute Journalisten auszeichnet: Sie hat sich dem Mainstream widersetzt. Ihre Porträtsammlung ist von Sympathie getragen, aber deswegen noch lange nicht ohne die notwendige kritische Distanz.
Absolut lesenswert. Ein Muss für alle, für die die Türkei nicht nur ein Urlaubsland ist.
Bewertung: *****
Short URL for this post: http://bit.ly/bnPNIXlang="de">