Yusuf Atilgan „Der Müßiggänger“
Asli Erdogan „Die Stadt mit der roten Pelerine“
Tevfik Turan (Hrsg.) „Von Istanbul nach Hakkari“
Leyla Erbil „Eine seltsame Frau“
Halid Ziya Usakligil „Verbotene Lieben“
Orhan Pamuk „Schnee“
Die Türkei ist politisch in aller Schlagzeilen: Der Generalstaatsanwalt will die demokratisch gewählte Regierungspartei AKP verbieten, die Armee marschiert im Nordirak ein, um PKK-Basen zu zerstören, die Diskussion über Kopftücher an der Universität spaltet die Nation – und dazu steigt der Widerstand in der EU, das Land in die Gemeinschaft aufzunehmen.
Viele schlechte Nachrichten, nur eins ist völlig unstrittig: Literarisch betrachtet ist die Türkei längst Weltklasse und das nicht erst seit Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis bekam. Nicht ohne Grund ist die Türkei 2008 Gastland der Frankfurter Buchmesse. Und äußerst verdienstvoll hat der Unionsverlag eine ganze „Türkische Bibliothek“ veröffentlicht. Davon soll in diesem Lesenblog-Spezial die Rede sein.
Orhan Pamuk „Istanbul“, 432 Seiten, 25,90 €, Hanser, ISBN: 978-3446208261;
Natürlich, mit Orhan Pamuk fängt dieser Streifzug durch die türkische Gegenwarts-Literatur an. Pamuk ist der berühmteste unter den türkischen Autoren, verehrt im Westen, misstrauisch betrachtet als kritischer Geist in seiner Heimat, wo er auch schon mal eine Anzeige nach dem berüchtigten Paragrafen 301 („Beleidigung des Türkentums“) abzuwehren hatte. „Istanbul“, auf deutsch erschienen im Herbst 2006, ist Pamuks persönlichstes Werk – eine Geschichte seiner Kindheit und seiner Familie und eine Liebeserklärung an die Heimatstadt und an viele längst von der Moderne weggefegte Straßen und Plätze der osmanischen Metropole.
Bewertung: *****
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Halid Ziya Usakligil „Verbotene Lieben“, 474 Seiten, 22,90 €, „Türkische Bibliothek“ im Unionsverlag, ISBN: 978-3293100091;
Dieser Roman ist der Beginn der modernen türkischen Literatur. Erstmals erschienen im Jahr 1900 schildert dieses epische Sittengemälde das Leben der mondänen Istanbuler Oberschicht zum Ende des Osmanischen Reiches. Eine klassische Geschichte: Der reiche Witwer freit die junge, schöne von Reichtum träumende junge Frau. Die Beziehung bleibt emotional unerfüllt, also tröstet sich die junge Frau mit dem Neffen ihres Gatten usw. usw. Ein Werk, das die Brücke schlägt zwischen den großen (west)europäischen Erzählern wie Balzac und Stendhal, also dem Okzident, und dem Orient. Auch heute noch lesenswert.
Bewertung: ****
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Leyla Erbil „Eine seltsame Frau“, 208 Seiten, 17,90 €, „Türkische Bibliothek“ im Unionsverlag, ISBN: 978-3293100015;
Noch ein historischer Roman, irgendwie: „Die seltsame Frau“ erschien 1971. Die Studentenrevolution schläft sich auch in Istanbul nieder. Die Studentin Nermin ist gefangen zwischen Traditionen und (linkem) Aufbruch. Sie bricht mit dem Tabu der Jungfräulichkeit: „Ich hatte keine Angst vor Schlägen; ich hatte Angst, daß er mir was schlimmes antun könnte. Was ist, wenn jenes Häutchen, um das sich meine Mutter so gesorgt hatte, von so einem Polizisten kaputtgemacht wird?“ Am Ende aber ist alles Illusion.
Bewertung: ***
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Tevfik Turan (Hrsg.) „Von Istanbul nach Hakkari“, 411 Seiten, 19.90 €, „Türkische Bibliothek“ im Unionsverlag, ISBN: 978-3293100039;
Die ganze Vielfältigkeit der Türkei zeigt dieser Band mit Erzählungen von 30 Autoren. Ein alter Mann kehrt in seine Heimat zurück, weil er sich nach dem Nomadenleben sehnt. Eine Frau bricht mit ihrem Mann, weil er mit den Ersparnissen durchgebrannt ist. Ein Dichter geht ins Fotostudio. Es geht um Meer und Schnee, um Sehnsüchte und um Trauer, um Istanbul und um die ostanatolische Provinz – ein Querschnitt durch die Türkei gestern und heute – und morgen?
Bewertung: ****
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Asli Erdogan „Die Stadt mit der roten Pelerine“, 208 Seiten, 19,90 €, „Türkische Bibliothek“ im Unionsverlag, ISBN: 978-3293100107;
Verlassen hat Asli Erdogan ihre Heimat Türkei. Die Hauptfigur ihres Romans, die Akademikerin Özgür kommt nach Rio de Janeiro und kann von dieser Stadt, diesem Moloch nicht mehr lassen. Und dabei führen sie diese Erlebnisse zurück in die Türkei und weg von ihrer Rolle als Frau in der Türkei. Asli Erdogan hat eine ungewöhnliche Karriere. Die 40-Jährige studierte in ihrer Heimatstadt Istanbul Physik und Informatik, arbeitete in Genf an der Kernforschung und später in Rio de Janeiro und verabschiedete sich vor zehn Jahren in die Schriftstellerei.
Bewertung: ****
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Yusuf Atilgan „Der Müßiggänger“, 256 Seiten, 19,90 €, „Türkische Bibliothek“ im Unionsverlag, ISBN: 978-3293100084;
Noch so ein Roman aus der Mitte einer uns völlig unbekannten osmanisch-geprägten Gesellschaft. Der Müßiggänger lässt sich ziellos durch die Metropole Istanbul treiben. Er macht sich den Spaß, die Spießbürger zu provizieren und ist stets auf der Suche nach der Frau fürs Leben. Als er sieht und gleich wieder verliert, erkennt er die Niederlage. Ein Roman, der bei seinem Ersterscheinen vor 49 Jahren das Selbstverständnis der Türkei ins Schwingen brachte.
Bewertung: ***
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Orhan Pamuk „Schnee“, 512 Seiten, 25,90 €, Hanser, ISBN 978-3446205741 (auch als Fischer-Taschenbuch, 9,95 €, oder unter www.bpb.de, Schriftenreihe Band 503, 4 €);
Zum Schluss nochmal Pamuk. „Schnee“ brachte ihm den Nobelpreis ein, dieser Roman über den Konflikt zwischen Tradition und Moderne – verpackt in eine Art Krimi. Der mittelmäßige Schriftsteller Ka kommt in das ostanatolische Städtchen Kars, um die Selbstmorde einer Reihe junger Mädchen zu untersuchen, die ihrem Leben ein Ende setzten, als sie gezwungen wurden, das Kopftuch abzulegen. Dieser Roman besticht weniger durch die (Krimi-)Handlung als durch die Schilderung türkischer Gegenwart und Selbstverständnisses.
Bewertung: ****
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